Lenas Flucht
Danilka.
»Wo ist Mama?« fragte er gähnend.
»Mama ist ein bißchen krank, man hat sie ins Krankenhaus gebracht. Dort macht man sie gesund, und dann kommt sie wieder.«
»Ich will zu Mama!« erklärte Danilka entschlossen.
»Schlaf erst ein wenig. Morgen früh fahren wir hin und holen Mama nach Hause.«
»Können wir nicht gleich fahren? Ich will zu Mama.«
Georgi trug Danilka wieder ins Bett und blieb ein wenig bei ihm sitzen. Er strich ihm über die weichen, seidigen Löckchen, wie es Lida tat, wenn der Junge nicht einschlafen konnte.
Als er schließlich ruhig und gleichmäßig atmete, schlich Georgi auf Zehenspitzen in die Küche zurück.
Es muß doch eine zentrale Auskunft geben, wo man erfahren kann, in welchem Krankenhaus ein Mensch liegt, dachte er bei sich. Aber er hatte kein Telefonbuch im Haus, und die Auskunft zu erreichen konnte Stunden dauern. Dort war immer besetzt. Inzwischen versuchte vielleicht Lida selbst aus dem Krankenhaus anzurufen und kam nicht durch.
Der Teekessel brodelte schon lange vor sich hin. Georgi brühte sich einen Tee auf und nahm noch eine Zigarette. Da schrillte das Telefon.
»Lida?« rief Georgi aufgeregt in den Hörer.
»Guten Abend, Georgi Iwanowitsch«, hörte er eine unbekannte junge Stimme, »ich bin Walja. Ihre Frau hat mich gebeten, bei Ihnen anzurufen.«
»Wo ist sie? Was ist passiert?«
»Ihre Frau liegt im Krankenhaus von Lesnogorsk, in der Gynäkologie.«
»In Lesnogorsk? Das ist ja 40 Kilometer von Moskau entfernt! Was ist mit ihr?«
»Georgi Iwanowitsch, regen Sie sich bitte nicht auf. Bei Ihrer Frau wurden künstliche Wehen ausgelöst.«
»Weshalb?«
»Dazu kann ich Ihnen nichts sagen.« Walja seufzte. »Ich bin Studentin und nur zum Praktikum hier. Kommen Sie sie morgen besuchen, bringen Sie etwas Obst oder Fruchtsaft mit. Vor allem aber sollten Sie sie beruhigen.«
»Wie geht es ihr?« fragte Georgi niedergeschlagen.
»Insgesamt nicht schlecht. Aber sie weint die ganze Zeit.«
»Sagen Sie Lida, daß zu Hause alles seinen Gang geht. Die Kinder schlafen.«
Die werden ihn wohl nicht zu ihr lassen, dachte Walja, als sie den Hörer aufgelegt hatte.
Im Schwesternzimmer kochte das Teewasser. Walja goß zwei Gläser auf, steckte sich ein paar Bonbons und Kekse in die Tasche und ging zu der Patientin zurück.
Georgi Gluschko holte sich aus dem Kühlschrank eine Flasche Wodka, öffnete sie, goß sich ein halbes Wasserglas voll, kippte das Zeug auf einen Zug hinunter und aß ein Stück Schwarzbrot nach.
Wir werden also kein viertes Kind haben, dachte er. Das ist keine Katastrophe, drei haben wir schon. In der heutigen Zeit ist das viel. Aber warum ist mir so übel? Und wie wird Lida sich jetzt fühlen? Warum haben die sie wohl nach Lesnogorsk gebracht? Gibt es in Moskau zuwenig Krankenhäuser?
Georgi wollte sich noch einmal einschenken, überlegte es sich dann aber anders. Am nächsten Tag brauchte er einenklaren Kopf. Dann fiel ihm ein, daß er die Schwiegermutter noch anrufen mußte.
Die sah das Ganze ziemlich nüchtern.
»Das kommt vor. Ich habe zwei Kinder zur Welt gebracht und hatte drei Fehlgeburten. Das ist Frauenlos. Und was hättet ihr mit einem vierten Kind anfangen wollen? Vielleicht ist es besser so.«
Nach diesem Gespräch fühlte sich Georgi noch schlechter. In solchen Situationen rief er seinen alten Freund Sergej an, den er seit der Schule kannte. Sie trafen sich selten und sprachen auch am Telefon nicht oft miteinander. Aber jeder wußte, da gibt es immer einen Freund, wie das Leben auch spielt. Es hatte sie weit auseinandergetragen: Georgi war nur Meister in einer Uhrenfabrik, Sergej dagegen Oberstleutnant der Miliz.
Sergej Krotow war zu Hause und nahm selbst den Hörer ab.
Boris Simakow saß nun schon den zweiten Tag auf einer Bank in einem Hof mitten in Moskau und beobachtete unablässig die drei Aufgänge des alten, gediegenen Hauses. Die Eingänge waren mit Sprechanlagen versehen, und jede Wohnung nahm mindestens eine halbe Etage ein, manche sogar zwei übereinanderliegende Stockwerke. Der Mann, dem Boris hier auflauerte, war Besitzer einer solchen Wohnung.
»Boris? Hallo! Schön, dich zu sehen!« hörte er eine Stimme in seinem Rücken. »Wartest du hier etwa auf mich?«
»Guten Tag, Andrej Iwanowitsch. Ich warte in der Tat auf Sie.«
»Warum hast du nicht angerufen? Wir hätten uns doch verabreden können. Ich komme rein zufällig hier vorbei. So hättest du bis in die Nacht hier sitzen können. Ist was
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