Lenas Flucht
ging. Pinja machte nach wie vor einen merkwürdigen Eindruck. Er leckte ihr nur matt die Hand. Auch als sie ihn ausführte, folgte er ihr, ohne die geringste Freude zu zeigen.
Auf dem Hof ließ sie ihn von der Leine, aber er blieb dicht neben ihr.
Am Sonnabend wollte Lena die Übersetzung der Erzählung abschließen. Bis zu ihrem Abflug mußte sie druckreif sein. Die Arbeit ging vor, selbst wenn man sie jagte und bedrohte. Aber Krotow wollte sie anrufen, ihn um eine zweite Unterredung bitten, um ihm die Kassetten und das in der Wohnung gefundene Papier zu übergeben.
Amalia Petrowna ging es gut. Sie hatte wieder Material, und es war alles glatt gelaufen, wenn man den unangenehmen Satz dieser Gluschko nicht zählte: »Ich zeig’ Sie an.«
Das bekam sie schon wieder hin. Sie wollte sich öfter bei der Patientin sehen lassen, Mitgefühl zeigen und sie für sich einnehmen. Darin war sie Meisterin.
Etwas anderes beunruhigte sie ein wenig: Was war nur in sie gefahren, auf diese kindische Aktion mit der Illustration aus dem medizinischen Lehrbuch zu verfallen? Aber als sie davon hörte, daß der Krankenwagen explodiert und die drei Burschen ums Leben gekommen waren, mußte sie ihren Haß auf die Poljanskaja einfach loswerden. Jetzt, da dieser etwas abgeklungen war, begriff sie, daß sie eine riskante Dummheit gemacht hatte.
Amalia Petrowna schalt sich noch ein wenig wegen ihres Leichtsinns, klopfte eine leichte Nachtcreme in die zuvor mit Gesichtswasser gereinigte Haut, löschte das Licht und schlief beruhigt ein.
Am Sonnabend um zehn morgens fuhr Krotows Lada am Tor des Lesnogorsker Krankenhauses vor. Auf dem Beifahrersitz saß Georgi Gluschko.
Aus dem Wärterhäuschen trat träge ein Wachmann in Tarnanzug mit Maschinenpistole und Gummiknüppel.
»Wo wollen Sie hin?« fragte er schläfrig.
»Meine Frau liegt hier. Ich möchte sie besuchen«, erklärte Georgi aus dem Auto.
»Abteilung?«
»Gynäkologie.«
»Name?«
»Gluschko, Lida.«
Ohne ein Wort verschwand der Mann in seinem Häuschen. Einige Minuten später trat ein anderer heraus, der sich vom ersten kaum unterschied, aber etwas lebendiger wirkte.
»Ihre Frau liegt noch auf der Intensivstation«, erklärte er. »Sie können jetzt nicht zu ihr.«
»Kann ich wenigstens mit dem behandelnden Arzt sprechen?« fragte Gluschko ruhig und höflich.
»Heute ist Sonnabend. Es ist nur ein diensthabender Arzt da, und der hat zu tun. Der behandelnde Arzt ist am Montag von zehn bis achtzehn Uhr zu sprechen.«
»Danke. Und am Montag darf ich rein?«
»Ja.«
»Kann ich etwas für sie abgeben?«
»Her damit«, der Wachmann streckte seine Hand aus, »aber schreiben Sie den Namen auf das Päckchen.«
Wohl oder übel mußten sie wieder abfahren. An der nächsten Bushaltestelle bremste Krotow und fragte einen Passanten nach dem Weg zur Milizstation.
»Kann ich mitkommen?« bat Georgi, als sie vor dem Gebäude hielten.
»Meinetwegen.« Krotow nickte. »Ist sogar besser so.«
Milizchef Sawtschenko war trotz des Wochenendes anwesend. Der unerwartete Besuch eines Oberstleutnants derMoskauer Kriminalpolizei von der Petrowka überraschte und erschreckte ihn ein wenig.
»Das hier ist kein Krankenhaus, sondern ein Geheimobjekt«, hub Krotow lächelnd an. »Die Frau meines Freundes Georgi ist gestern dort eingeliefert worden. Ich finde es schon merkwürdig, daß sie überhaupt von Moskau nach Lesnogorsk gebracht wurde. Sind hier irgendwelche besonderen Spezialisten am Werk?«
»Unsere Fachleute sind in der Tat sehr gut«, bestätigte Sawtschenko.
»In Moskau sind sie sicher auch nicht schlechter«, bemerkte Krotow. »Und die Jungs im Tarnanzug passen auf, daß man sie nicht klaut? Und die hohe Mauer mit Stacheldraht und Glasscherben hat auch damit zu tun?«
Sawtschenko zwang sich zu einem Lächeln.
»Bitte verstehen Sie«, versuchte er zu erklären, »dieses Krankenhaus hat ein Versuchslabor. Dort werden neue Medikamente entwickelt. In sehr kleinen Mengen für märchenhafte Summen. Genau weiß ich es auch nicht, aber es heißt, sie helfen sogar gegen Krebs. Daher die Wache und die Mauer.«
»Die Anzeige von Lena Poljanskaja haben Sie erhalten?«
Die Frage kam unerwartet, und Krotow bemerkte, wie der Hauptmann blaß wurde.
»Habe ich«, antwortete er nach einer kleinen Pause.
»Kann ich sie mal sehen?«
»Hm …«, ließ Sawtschenko hören. »Ist schon im Archiv.«
In Wirklichkeit steckte sie nach wie vor in seiner Jackentasche. Aber da konnte er sie
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