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Lenas Flucht

Lenas Flucht

Titel: Lenas Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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sei. Davon gibt es heute nicht wenige. Oder wenn eine Frau in einer frühen Phase der Schwangerschaft zu mir kommt und eine Abtreibung vornehmen lassen will, ich aber sehe, daß sie arm, einsam oder einfach eine Nutte ist, die alles leichtnimmt, dann deute ich ihr vorsichtig an, daß sie eine Menge Geld verdienen kann, wenn sie noch zwei, drei Monate mit der Unterbrechung wartet. Viele gehen darauf ein, im Grunde jede zweite. Es ist auch vorgekommen, daß Frauen nach mehreren Monaten Schwangerschaft das Kind behalten wollten. Darauf bin ich natürlich eingegangen. Nur – wennsie einen Vorschuß genommen hatten, mußten sie den zurückzahlen. Das lief mit einem ganz normalen Schuldschein: ›Ich, soundso, habe bei soundso geliehen …‹ Aber das war nicht meine Aufgabe. Ich führte nur die Gespräche, machte das Angebot, gab Ratschläge.
    Mit der Zeit wurde immer mehr Material verlangt. Amalia Petrowna begann Druck auf mich auszuüben, anfangs eher indirekt. Nun bezogen wir auch die sogenannten Risikogruppen ein – Frauen mit Diabetes, Bluthochdruck oder Herzproblemen.
    Denen mußte ich Angst einjagen: ›Sie könnten bei der Entbindung sterben.‹ Das ist natürlich wesentlich komplizierter. Schließlich geht es dabei nicht um Pathologie, sondern um Psychologie. Wenn eine Frau das Kind will, dann bringt sie es zur Welt, und sollte sie dabei ihr Leben riskieren. Wenn sie es nicht will, dann wird sie es los, und wenn sie dabei ihr Leben riskiert … Verzeihen Sie, junger Mann, haben Sie nicht zufällig eine Zigarette?«
    »Natürlich.« Goscha zückte eine Schachtel Marlboro.
    »Darf ich das Fenster ein wenig öffnen?« Kurotschkin sog gierig an der Zigarette, blies den Rauch zum Fenster hinaus und fuhr dann fort: »Mit Ihnen, Lena, hat wahrscheinlich nun die dritte Etappe begonnen. Amalia brauchte dringend Material, und wir hatten keinerlei Reserven mehr. Sie stand unter Druck. Deshalb drängte sie ihrerseits mich und wahrscheinlich noch einige Lieferanten, wie ich einer bin.«
    »Danke, Doktor.« Lena atmete tief durch. Sie fuhren Kurotschkin nach Hause. Auf dem Rest des Weges nach Tscherjomuschki sprach keiner ein Wort. Vor dem Aussteigen sagte der alte Arzt: »Sie haben recht, Lena. Sie werden eine Tochter bekommen. Denken Sie an das Kind. Die bringen Sie um, wenn Sie weiter so vorgehen wie bisher. Je mehr Lärm Sie schlagen, desto sicherer ist Ihr Tod. Und das Recht wird Sie nicht schützen.«
    Ohne eine Antwort abzuwarten, stieg er aus und schloß sachte die Tür.

Zehntes Kapitel
    Lida Gluschko war die fünfte Patientin, die auf die Ultraschalluntersuchung wartete. Sie strickte konzentriert an einem blauen Pullover für ihren Sohn Wassja. Lida hatte drei Söhne. Der älteste, Mischa, war acht, der mittlere, Wassja, fünf und der jüngste, Danilka, erst zwei Jahre alt.
    Nun war Lida wieder schwanger.
    Als rechtgläubige Christin kam eine Abtreibung für sie nicht in Frage. Das war eine Todsünde. Schlimm genug, daß sie das Kind nicht wollte.
    Lida mußte jede Kopeke zweimal umdrehen. Als Meister in einer Uhrenfabrik verdiente ihr Mann Georgi gar nicht so wenig, aber bei der Familie!
    Lida strickte eifrig an dem Pullover für Wassja und dachte dabei, daß Mischa neue Schuhe haben mußte. Seine Füße wuchsen nicht täglich, sondern stündlich. Außerdem waren die alten Schuhe nicht nur zu klein, sondern ausgetreten und löchrig, konnten also auch nicht von Wassja abgetragen werden. In dessen Kindergarten wiederum hatten alle Kinder Legosteine. Wassja wollte natürlich auch welche, denn die anderen ließen ihn nicht mitspielen. Wenn sie nur an den Preis dachte, den dieses Plastikzeug kostete, wurde ihr übel … Und zu allem Überfluß hatte die Erzieherin gestern auch noch zu ihr gesagt: »Entschuldigen Sie schon, aber Ihr Wassja hat gestern während des ganzen Mittagschlafs geweint. ›Assi‹ haben sie ihn genannt. So böse können Kinder sein. Ziehen Sie ihn doch etwas besser an, er läuft ja wirklich nur in geflickten Sachen herum.«
    Und jetzt auch noch ein viertes Kind. Der einzige Trost: Vielleicht wurde es endlich ein Mädchen. Sie hoffte sehr, das heute beim Ultraschall zu erfahren. Immerhin war sie in der 22. Woche, da konnte man so etwas schon feststellen.
    Die Ärztin, eine elegante junge Frau, schaute stumm auf den flimmernden Monitor. Dann ging sie zum Schreibtisch und kritzelte rasch etwas auf ein Blatt Papier.
    »Kann ich mich anziehen?« fragte Lida schüchtern.
    »Ja, natürlich«, antwortete

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