Lenas Flucht
übertreibst du aber, Boris!« Andrej Iwanowitsch schüttelte belustigt den Kopf. »Nennen wir doch die Dinge beim Namen: Du hast Angst gekriegt, denn schließlich willst du keine Babys umbringen. Das verstehe ich.«
Als sie auf die Straße traten, fiel nasser Schnee. Ein eisiger Wind wehte. Nach der anheimelnden Atmosphäre im Klub war das besonders widerwärtig.
»Du willst nach Hause?« fragte Andrej Iwanowitsch.
»Erraten.«
»Und hast nach diesem Abendessen keine Lust auf den Vorortzug? Wowa setzt mich ab und bringt dich dann in dein Lesnogorsk. Mit allem Komfort.«
»Wo denken Sie hin, Andrej Iwanowitsch«, erwiderte Simakow verlegen, »ich komm’ schon selber zurecht. Vielen Dank.«
»Schon gut! Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für eine gute Tat du soeben vollbracht hast. Steig ein, fahren wir.«
Elftes Kapitel
»Wohin fahren wir?« fragte Goscha, als die gebeugte Gestalt Dr. Kurotschkins in der Tür verschwunden war.
»Nach Hause!«
»Hast du keine Angst?«
»Ich bleib’ dort nicht über Nacht. Ich will nur nachschauen, ob sie noch mal da waren.«
»Und wenn sie dir in der Wohnung auflauern?«
»Hast du eine Gaspatrone für deine Pistole?«
»Natürlich, aber ich habe sie noch nie benutzt.«
Seinen Wolga ließ Goscha unweit von Lenas Haus zwischen zwei Garagen stehen.
»Hier kommt man nicht so gut weg, aber der Wagen ist nicht zu sehen. Immerhin kennen sie ihn«, erklärte er.
Weder im Hof noch im Aufgang fiel ihnen etwas auf. Lena trat an ihre Wohnungstür und schlug mit einer heftigen Bewegung den Fußabtreter zurück. Darunter fand sie einen dunkelbraunen Fleck, in dem winzige Glassplitter glitzerten. Vorsichtig berührte sie ihn mit der Fingerspitze. Er war schon trocken, aber der scharfe Jodgeruch hatte sich noch nicht verflüchtigt.
»Vielleicht gehen wir lieber nicht rein?« flüsterte Goscha.
Aber Lena hatte bereits den Schlüssel im Schloß gedreht.
»Laß mich zuerst«, bat Goscha und schob sie beiseite. Seine Hand umkrampfte die Pistole.
Drinnen war es dunkel und still. Nur im Bad hörte man den defekten Hahn tropfen. Einige Sekunden später erklärte Lena laut: »Es ist niemand da. Du kannst die Kanone wegstecken.«
»Was soll das?« flüsterte Goscha erschrocken und hielt die Waffe weiter im Anschlag. »Woher willst du das wissen?«
»Ich rieche es. Ich hab’ eine Spürnase wie ein Hund.« Lena lachte und schaltete das Licht im Flur ein. Unter dem Läufer war der gleiche dunkelbraune Fleck wie draußen vor der Tür.
Auch als sie sich genauer in der Wohnung umschauten, fanden sie nichts Außergewöhnliches. Lena warf einige Kleinigkeiten, die sie bei ihrer überstürzten Flucht vergessen hatte, in den Rucksack. Dann schaltete sie den Kühlschrank aus und umfing beide Zimmer mit einem letzten Blick. Vor dem Abflug nach New York würde sie sich wohl kaum entschließen, noch einmal hier vorbeizuschauen. Lieber blieb sie die letzten Tage bei ihrer Tante.
Ihr Blick streifte den Schreibtisch. Darauf lag ein doppelt zusammengefaltetes Blatt Papier, das ihr bisher nicht aufgefallen war.
Lena griff vorsichtig danach, faltete es auseinander und pfiff vor Überraschung.
Goscha, der ihr über die Schulter schaute, verschlug es den Atem.
Es war die Kopie einer Illustration aus einem medizinischen Lehrbuch; nach der antiquierten Orthographie zu urteilen, entstammte es einer Ausgabe der Zarenzeit. Die Bildunterschrift lautete: »Längsschnitt durch die gefrostete Leiche einer Schwangeren in der 25. Woche.«
»Die Sotowa scheint die Nerven zu verlieren«, murmelte Lena nachdenklich.
»Woraus schließt du, daß sie das war?«
»Denk doch nach. Wer nur mit der Absicht in meine Wohnung kommt, eine solche Botschaft zu hinterlassen … Das ist hysterisch, sinnlos und riskant.«
»Sie wollte dir Angst einjagen …«
»Man muß schon ein ziemlicher Idiot sein, um zu glauben, nach dem, was ich durchgemacht habe, könnte man mich mit so einem Fetzen Papier erschrecken. Die Sotowa ist allerdings keine Idiotin. Ich denke, daß ihre Emotionen mit ihr durchgegangen sind. Ein solches Papier kann man glatt einen Erpressungsversuch nennen. Dafür gibt es einen Artikel im Strafgesetzbuch. Die Drohung wurde nicht einmal anonym in den Briefkasten geworfen, sondern bis in die Wohnung gebracht. Dafür kann ich Amalia Petrownanur dankbar sein. Gleich morgen früh ruf ’ ich Krotow an.«
In Tante Sojas Wohnung war es dunkel und still. Lena wußte, daß ihre Verwandte oft zeitig schlafen
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