Lenas Flucht
passiert?«
»Ja, Andrej Iwanowitsch.« Boris seufzte. »Ich arbeite nicht mehr im Krankenhaus.«
»Bist du selber gegangen, oder hat man dich rausgeworfen? Gut, warte im Auto. Ich muß nur mal kurz nach oben.«
Der vierschrötige Fahrer in Lederjacke öffnete Boris eine Tür des neuen schwarzglänzenden Saab.
Exakt zehn Minuten später war Andrej Iwanowitsch wieder zur Stelle. Er setzte sich vorn neben den Chauffeur.
»Zum Klub, Wowa. Und du« – er wandte sich zu Boris um – »entschuldige, daß wir im Auto nicht reden können. Ich muß rasch noch ein paar Papiere durchsehen.«
Zwanzig Minuten später hielt der Wagen vor einer altmodischen Villa in einer stillen Gasse an der Taganka.
Der Türsteher in Livree eilte zum Wagen und riß den Schlag auf.
»Herzlich willkommen, Andrej Iwanowitsch!«
Drinnen sah es so aus, wie sich Simakow einen echten englischen Klub vorstellte: dunkel getäfelte Wände, schwere, zugezogene Vorhänge aus dunkelblauem Samt, riesige Ledersessel. Es roch nach gutem Tabak und teurem Herrenparfüm.
In seinen von der Straßenlauge gebleichten alten Schuhen und der abgeschabten Schaffelljacke fühlte sich Boris hier gar nicht wohl. Ungerührt nahm sie ein Lakai entgegen, der lautlos hinter ihnen aufgetaucht war, und trug sie fort. Ebenso lautlos erschien ein tadellos gekleideter älterer Herr und fragte Andrej Iwanowitsch lächelnd nach Gesundheit und Familie. Dann führte er sie ins Restaurant, wo ganze fünf Tische standen, die voneinander durch holzgeschnitzte Zwischenwände getrennt waren.
Sie nahmen an einem der Tische Platz, eine altmodische Tischlampe erstrahlte.
Simakow hatte davon gehört, daß es in Moskau exklusive Klubs gab. Daß er selber einmal in einem solchen sitzen sollte, hatte er als einfacher Arzt nicht zu träumen gewagt.
Als er den ersten Happen fein gesalzenen Lachs auf der Zunge zergehen ließ und ein Eckchen Roggentoast mit Kaviar belegte, vergaß Simakow für einige Augenblicke alles auf der Welt.
»Also heraus mit der Sprache, was ist geschehen?« Andrej Iwanowitsch lächelte Boris freundlich zu, aber seine grauen Augen blickten ernst und kalt.
»Ich habe im Krankenhaus gekündigt, weil dort merkwürdige Dinge vor sich gehen.«
Er legte den Fall Lena Poljanskaja in aller Ausführlichkeit dar und ließ nur die Einzelheiten weg, aus denen sein Gegenüber schließen konnte, daß ihm, Simakow, die Hintergründe durchaus klar waren.
Als er zum Abschluß seines Berichts Amalia Petrownas Zornausbruch sehr dramatisch beschrieben hatte, atmete er erleichtert auf und steckte endlich die Zigarette in den Mund, die er bisher zwischen den Fingern gedreht hatte. Sofort kam Feuer, das ihm ein unsichtbarer Kellner reichte.
Andrej Iwanowitsch wartete ab, bis dieser sich entfernt hatte, und fragte dann nachdenklich: »Hat es solche Fälle schon früher gegeben?«
»Künstliche Wehen, Fehlgeburten – ja, sogar ziemlich oft. Vielleicht häufiger als in anderen Kliniken. Aber ich habe mir darüber keine Gedanken gemacht. Diese unruhigen Zeiten, die Umweltveränderungen …«
»In welcher Phase waren die Schwangeren in der Regel?«
Simakow zögerte mit der Antwort, als ob er gründlich nachdenken müsse.
»Ich glaube, meist in einer späten Phase«, sagte er langsam, »zwischen der 20. und 25. Woche.«
Andrej Iwanowitschs Miene verdüsterte sich leicht.
»Und was hältst du von alledem, Boris?«
»Mir geht vor allem durch den Kopf, daß ich jetzt ohne Arbeit dastehe und eine Familie zu ernähren habe.«
»Gut. Da mach dir mal keine Sorgen. Wir werden schon etwas finden. Wenn du auch Frauenarzt bist und wir uns mit Pharmazeutika beschäftigen.«
»Es muß ja nicht unbedingt in Ihrer Firma sein«, meinte Simakow verwirrt, »aber bei Ihren Beziehungen …«
»Deine Chefin hat sich furchtbar aufgeregt? Wie war doch gleich ihr Name?«
»Sotowa, Amalia Petrowna.«
»Und wie heißt die kluge Frau, die euch durch die Lappen gegangen ist?«
»Poljanskaja, Lena Nikolajewna.«
»Was sie tut, weißt du nicht zufällig?«
»Zufällig weiß ich es. Es stand auf ihrem Krankenblatt. Sie ist Journalistin, Abteilungsleiterin in der Redaktion von ›Smart‹.«
»Von diesem Magazin habe ich schon gehört.« Andrej Iwanowitsch nickte. »Möchtest du, daß ich mich mal umhöre, was deine Sotowa so treibt?«
»Ehrlich gesagt, ja«, bekannte Simakow. »Wissen Sie, ich bin bestimmt kein Held, aber irgendwo gibt es doch so etwas wie eine Berufsehre …«
»Na, jetzt
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