Lenas Tagebuch
wir es nicht glauben. Außerdem erzählte jemand, dass heute nicht weit von der Fontanka 37 mehrere Bomben auf die Straße gefallen sind. Es gab Opfer.
Noch am 3. hieß es im Radio, dass dank unserer glorreichen Stalin’schen Falken noch keine einzige Bombe auf Leningrad abgeworfen worden sei. Dass in Leningrad noch kein Haus zerstört wurde. Dass es in Leningrad noch kein einziges Opfer gebe.
Und das war die Wahrheit noch am 3., und heute haben wir schon ein zerstörtes Haus, wir haben Bomben und bereits die ersten Opfer. Die Faschisten sind Bestien, wie groß ist der Hass aller Leningrader und auch meiner auf sie. Was wollen sie mit unserer Stadt machen? Wie stark war heute schon der Beschuss. Einfach entsetzlich. Dabei hat nur eine Kanone geschossen. Was wird sein, wenn es 20 sind? Was wird aus unserer Stadt? Werden wir am Leben bleiben? Wenn ich jetzt ins Bett gehe, ziehe ich mich nur zur Hälfte aus. Wie schrecklich, dass der Winter bevorsteht. Wie wird dieser Winter sein? Was werden wir alles ertragen müssen? Wenn die Deutschen in Leningrad einmarschieren, wenn in den Straßen meiner Stadt gekämpft wird, werde ich fliehen, ich werde nicht hier bleiben. Sollen Mama 38 und Aka machen, was sie wollen. Ich weiß, was mir zustoßen wird, wenn ich bleibe. Tamara und ich werden gemeinsam fliehen.
6. September
Heute waren den ganzen Tag lang von Zeit zu Zeit einzelne Schüsse zu hören. Heute habe ich Ljusja besucht. Wie langweilig es bei ihr ist. Sie beginnt nie als Erste das Gespräch, zu keinem Thema. Ganz anders Tamara. Indes, als ich Tamara schlecht kannte, kam sie mir auch langweilig, wenig gesprächig vor. Aber jetzt, wo wir uns näher kennen, quatschen wir die ganze Zeit, ohne nach Gesprächsthemen zu suchen. Aber Ljusja kenne ich gut. Sie ist einfach von Natur aus so. Nein, Tamara, die ist eine wahre Freundin. Als wir uns abends zusammen meinem Haus näherten, habe ich ihr in aller Offenheit gestanden: »Tamarotschka, wann sehen wir uns wieder? Ich habe doch niemanden außer dir!«
»Ich habe auch niemanden außer dir.«
»Ach wie, was ist mit Nadja, was ist mit Ljowa?«
»Ach, Nadja sehe ich gar nicht, und Ljowa – da ist nichts. Er braucht mich doch gar nicht. Er lernt jetzt immer in seinem Technikum.«
»Hast du ihn lange nicht gesehen?«
»Ja, seit dem 31. Ich werde mich auf keinen Fall je wieder selbst bei ihm einladen. Sonst muss ich es nachher noch bereuen.«
Tamara lachte. »Ist doch blöd, so zu reden, nicht wahr?«, sagte sie.
»Weißt du«, fuhr sie fort, »vielleicht braucht er mich auch gar nicht. Vielleicht sagt er nur aus Höflichkeit jedes Mal, bevor ich gehe, dass ich wiederkommen soll.«
»Nein, Tamara. Er findet dich einfach gut, und er freut sich, wenn du ihn besuchst.«
»Aber nein. Ihm war einfach nur langweilig. Und jetzt lernt er, ihm ist nicht mehr langweilig. Es ist schon so viel Zeit vergangen, ohne dass er mich angerufen hat. Dass er mich nicht besuchen kommt, ist klar, aber anrufen hätte er mich können, wenn er gewollt hätte. Also will er nicht.«
»Ach, was redest du, Tamara!«
»Was rede ich, was rede ich. Als er wollte, hat er mich angerufen. Hat mich gebeten, ihn zu besuchen. Da sind wir zusammen ins Kino gegangen.«
»Also hat er dich angerufen. Was ist dann das Problem?«
»Er hat angerufen. Doch das war damals, als ich zurückgekommen bin.«
»Na, du hast wenigstens das. Ich habe nicht mal das.«
Tamara hat diesen Worten keine besondere Bedeutung beigemessen. Im Unterschied zu mir. Tamara hat nämlich einen richtigen Freund. Ein Freund, der, als er Tamara sehen wollte, sie angerufen, sie eingeladen hat.
Ich habe auch einen sogenannten »Freund«. Aber was für ein Freund ist er, wenn er sogar vergessen hat, dass ich existiere? Wir haben uns so lange nicht gesehen, aber das kümmert ihn gar nicht. Solche Menschen kann man nicht als Freunde bezeichnen. Gut, er hat kein Telefon, aber er hätte mir über Tamara eine Nachricht zukommen lassen, mich zu sich einladen oder mich besuchen können. Aber warum nennt er sich weiter »Freund«?
Meine Meinung dazu: Entweder du verzichtest auf diesen Titel, oder du erweist dich seiner als würdig. »Freund« ist kein leeres Wort. Es verpflichtet einen nämlich zu etwas.
7. [September]
Heute ist der Internationale Jugendtag 39 . Allgemeiner sonntäglicher Arbeitseinsatz. Mama arbeitet auch. Im Radio wurde heute ein Frauenmeeting 40 aus Moskau übertragen. Ich hörte die erregten Stimmen von Barsowa, Marina
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