Lenas Tagebuch
Neujahrsbaum und aus dem Weihnachtsmann »Väterchen Frost« als säkulare Figur.
65 Jolkafest (jolka = Tannenbaum): Kinderfest mit Tannenbaum zum neuen Jahr. Nach anfänglicher Bekämpfung des Weihnachtsfests seit 1935 veranstaltet.
1942
2. Januar 1942
Schon lange habe ich die Feder nicht mehr in die Hand genommen. Was ist in dieser Zeit nicht alles passiert.
Das neue Jahr 1942 hat begonnen.
Jetzt sind Mama und ich allein. Aka ist gestorben. Sie ist an ihrem Geburtstag gestorben, dem Tag, an dem sie 76 Jahre alt wurde. Sie ist gestern gestorben, am 1. Januar um neun Uhr morgens. Zu der Zeit war ich gerade nicht zu Hause. Ich war Brot holen. Als ich von der Bäckerei zurückkam, wunderte ich mich sehr, dass Aka so ruhig dalag. Mama war wie immer äußerlich ruhig und sagte mir, dass Aka schlafe. Wir tranken Tee, wobei Mama mir von Akas Portion eine Scheibe abschnitt. Sie sagte, Aka esse ohnehin nicht so viel. Danach schlug Mama mir vor, mit ihr zusammen ins Theater zum Mittagessen zu gehen. Ich willigte gern ein, denn ich fürchtete mich davor, mit Aka allein zu bleiben. Wenn sie plötzlich stirbt, was soll ich dann machen. Ich hatte sogar Angst, dass Mama mich bitten könnte, mich um Aka zu kümmern, während sie fort war. Ich wollte nicht einmal zu Aka hingehen, denn es fiel mir sehr schwer zu sehen, wie sie stirbt. Ich war eine Aka auf den Beinen gewohnt, die liebe, gute, geschäftige Alte, die immer etwas zu tun hatte. Und jetzt lag Aka plötzlich hilflos da, abgemagert bis auf die Knochen und so kraftlos, dass sie gar nichts mehr mit der Hand festhalten konnte.
So eine Aka wollte ich nicht sehen, und deshalb ging ich gerne mit Mama mit. Mama schloss die Tür ab und brachte den Schlüssel zu Sascha ins Zimmer.
»Mama, warum hast du Aka eingeschlossen? Was ist, wenn sie etwas braucht?«
Aber Mama antwortete mir, dass Aka nichts mehr brauche. Dass Aka gestorben sei.
»Wann?«
»Während du Brot holtest. Ich habe dich mit Absicht weggeschickt.«
»Warum das, Mama, ich wäre von selbst nicht allein mit einer Toten im Zimmer geblieben. Hat sie sich von dir verabschiedet?«
»Nein, sie hat nichts mehr wahrgenommen.«
Und so erfuhr ich, dass Aka nicht mehr länger existiert, dass es Aka nicht mehr gibt.
Laut Mamas Worten starb sie sehr ruhig. Als sei sie erstarrt. Sie röchelte und röchelte vor sich hin und verstummte dann. Davor aber, in der Silvesternacht, ging es ihr sehr schlecht, und Mama ging ständig zu ihr. Ich schlief, aber in meinen Träumen hörte ich, wie jemand gequält stöhnte.
Aka ist gestorben.
Mama und ich sind nun allein. Ich habe niemanden mehr außer Mama Lena, und sie niemanden außer mir.
Jetzt muss ich Mama behüten wie nie zuvor. Denn sie ist alles für mich. Wenn sie stirbt, bin ich verloren. Wohin sollte ich allein gehen? Was würde ich tun? Mama lebt jetzt fast nur noch durch ihre Tapferkeit. Ihre Tapferkeit ist groß. Sie weiß, dass sie nicht umfallen darf, weil ich bei ihr bin.
Jetzt kann ich weiterschreiben. Ich bin zur Schule zum Mittagessen gegangen. Heute gab es für 15 Kopeken Suppe ohne Marken. Die Suppe war gut, mit Graupen. Viele Graupen. Danach nahm ich eine Portion Gerstenbrei mit Fett und vier Presskuchenfladen mit.
Mal sehen, was Mama mitbringen wird. Wenn Mama viel mitbringt, werden wir nicht alles aufessen und können für morgen etwas übrig lassen. Morgen kann ich wieder um zwei Uhr zum Essen in die Schule gehen. Das ist sehr gut, dass wir in den Ferien einen Teller Suppe ohne Marken bekommen können.
Nun hat das neue Jahr begonnen, wir haben neue Marken bekommen. Aber bislang gibt es in Ernährungsfragen keine Besserung. Die Norm für Brot ist die bisherige: 200 g für Angehörige und Angestellte, 350 g für Arbeiter. In den Geschäften gibt es nichts, und wenn es etwas gibt, dann nur in den ersten beiden Dekaden. Über die dritte Dekade ist noch nichts bekannt. Uns fehlt für das letzte Drittel nur Fett, aber davon recht viel.
Ja, Fett. Das ist es, wovon wir nicht genug haben. Brot reicht noch irgendwie, aber Fett haben wir keins. Deshalb leben viele jetzt nur noch von Brot.
So leben wir. Ohne Strom, selbst zu Neujahr wurde er nicht angeschaltet, ohne Wasser, zum Wasserholen muss man ins Erdgeschoss zur Schakt gehen. Auch das Radio läuft die meiste Zeit nicht, nur selten wird plötzlich eine Rede oder Musik gesendet, danach ist wieder Schweigen.
Wenn es Strom gäbe, könnte man immerhin noch irgendwie leben. Lesen, nähen und solche Dinge.
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