Lenas Tagebuch
Aber jetzt ohne Strom muss man sich um sechs Uhr abends schlafen legen, ob man will oder nicht. Denn wer will schon in absoluter Dunkelheit herumsitzen? Unter der Decke ist es wenigstens warm.
So leben wir also. Die Straßenbahn fährt schon lange nicht mehr, und Mama und mir steht noch die Freude bevor, uns zu Fuß auf die Wyborger Seite zu schleppen. Das ist so weit weg, aber gehen müssen wir. Schließlich brauchen wir Geld. Allein kann ich Mama nicht einen so weiten Weg gehen lassen. Und mir würde es das Herz brechen, wenn ich allein ginge. Aber zum Glück habe ich jetzt Ferien, und wir gehen zusammen. Irgendwie werden wir uns hinschleppen.
Mama möchte jetzt unbedingt in diesem Theater fest angestellt werden. Und vielleicht schafft sie das auch. Dann bekommt sie eine Arbeiterlebensmittelkarte und das Recht, die Kantine zu benutzen und zwei Portionen Suppe mitzunehmen. Und die Kantine dort ist sehr gut.
Aka ist nicht mehr, jetzt wird das Leben für Mama und mich billiger. Jetzt werden wir alles durch zwei teilen und nicht mehr durch drei wie zuvor, und das ist ein großer Unterschied. Zuvor lebten zwei Angehörige von Mamas Einkommen und jetzt nur noch eine. Wenn uns zuvor 600 Rubel im Monat kaum reichten, so werden uns jetzt, wie uns das Schicksal lehrt, 400 Rubel völlig reichen.
So hat der Tod selbst eines so lieben Menschen wie Aka seine positiven Seiten. Wie sagt das Sprichwort: »Glück im Unglück.« Jetzt wird Mama jeden Tag 400 g Brot haben, das ist schon mal was. Auch in der Kantine können wir mehr nehmen. Und das für einen ganzen Monat. Und nächsten Monat wird unsere Lage wahrscheinlich besser werden.
Wie erstaunlich sich auch eins zum andern fügt. Wenn wir unseren Kater nicht geschlachtet hätten, wäre Aka früher gestorben, und wir hätten jetzt nicht die Marken übrig, die uns jetzt ihrerseits retten werden. Ja, unserem Katerchen vielen Dank. Er hat uns zehn Tage lang ernährt. Eine ganze Dekade haben wir mit nur dem Kater unsere Existenz gesichert.
Es wird schon werden, jetzt nur den Kopf nicht hängen lassen! Alle sagen, dass die schwierigste Zeit schon hinter uns liegt. Und wirklich, der Belagerungsring um Leningrad ist an einer Stelle schon durchbrochen 66 .
3/I 42
Uns bleibt nichts mehr übrig, als uns hinzulegen und zu sterben. Von Tag zu Tag wird es immer schlechter. Die letzten Tage war Brot die einzige Quelle unserer Existenz. An Brot mangelte es uns nicht, ich will damit sagen, dass es uns bislang immer möglich war, unser Brot zu bekommen. Wir mussten nie in der Bäckerei warten, bis Brot gebracht wurde. Aber heute ist es schon elf Uhr morgens, doch in keiner Bäckerei gibt es Brot, und keiner weiß, wann welches kommen wird. Hungrige, stolpernde, wankende Menschen suchen seit sieben Uhr morgens die Bäckereien ab, aber, ach, überall sehen sie leere Regale, sonst nichts.
Gut, dass Mama und ich für heute Brei und Presskuchenfladen aufgehoben haben, sonst wüsste ich gar nicht, was heute wäre. Mama und ich haben heute Morgen anstelle des Tees Suppe gegessen, jede zweieinhalb Teller heiße Suppe, und deshalb können wir das Fehlen von Brot noch ertragen.
Doch das ist nicht gut, wenn man selbst das Brot »erjagen« muss.
Wann wird es endlich besser? Es ist schon höchste Zeit, denn die Menschen sind alle so erschöpft, dass ich nicht weiß, ob viele in Leningrad am Leben bleiben werden, wenn die Versorgungslage noch einen Monat lang so bleibt. Viele werden das nicht überleben.
Ich weiß nicht, ob ich überleben werde. Heute verspüre ich aus irgendeinem Grund in mir so eine Schwäche. O Gott, ich kann mich kaum auf den Beinen halten, die Knie knicken ein, mir ist schwindlig. Gestern noch habe ich mich völlig gesund und munter gefühlt. Und ich war gar nicht so sehr hungrig. Wie ist dann dieser Kräfteverfall zu erklären? Vielleicht hat Akas Tod so auf mich gewirkt.
Um Mama mache ich mir große Sorgen. Die letzten Tage zeigt sie so viel Energie. Die ganze Zeit geht sie sorgenvoll umher, ist immer in Bewegung, dabei wankt sie selbst hin und her wie eine Betrunkene. Ich habe solche Angst, dass sie nach diesem ungewöhnlichen Energieschub die Kräfte verlassen werden. Aber was kann ich tun, um das abzuwenden? Ich weiß es nicht.
Aber vielleicht ist das alles auch nicht so schlimm. Und alles wird glücklich enden. Gebe Gott, dass es so wäre.
Möglichst schnell sollten wir alles mit Aka erledigen. Denn sie liegt in der Küche. Diesen Jakowlew können wir gar nicht
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