Lenas Tagebuch
erreichen, aber ohne ihn geht es nicht. Er muss den Totenschein ausstellen. Dann muss Mama noch irgendwohin gehen, und danach werden wir Aka auf dem Schlitten zum Hippodrom bringen 67 . Das ist von uns nicht weit.
Ich vergaß zu sagen, dass heute das Radio geht und wir die Nachrichten des Informbüros gehört haben. Unsere Truppen haben die Stadt Maly Jaroslawez erobert. Aber über die Leningrader Front kein Wort. Was hat das zu bedeuten? Wahrscheinlich eine vorübergehende Verschlechterung. Wir sterben hier vor Hunger wie die Fliegen, aber in Moskau hat Stalin gestern wieder ein Essen zu Ehren Edens gegeben 68 .
Das ist empörend, sie fressen dort wie die Teufel, während wir noch nicht einmal unser Stück Brot bekommen, wie es sich gehört. Sie veranstalten alle möglichen glänzenden Empfänge, während wir wie Höhlenmenschen, wie blinde Maulwürfe leben.
Wann hört das bloß auf? Ist es uns wirklich nicht vergönnt, wieder zartes grünes junges Frühlingslaub zu erblicken!? Werden wir wirklich die Maisonne nicht wiedersehen? Dieser schreckliche Krieg geht schon den siebten Monat. Über ein halbes Jahr.
Gestern saßen Mama und ich neben dem erloschenen Ofen, wir drückten uns eng aneinander. Wir fühlten uns so wohl, aus dem Ofen umhüllte uns die Wärme, unsere Mägen waren voll.
Da machte es nichts, dass es im Zimmer leer war und eine Totenstille herrschte. Wir drückten uns ganz fest aneinander und träumten von unserem künftigen Leben. Davon, was wir zum Essen kochen würden. Wir entschieden, dass wir unbedingt ganz viel Schweinespeck auslassen und direkt in das heiße Fett Brot tunken und essen würden, und außerdem beschlossen wir, viel Zwiebeln zu essen. Wir werden uns von den billigsten Breien ernähren, bedeckt mit gewaltigen Mengen Röstzwiebeln, solche goldbraunen, saftigen, mit Fett getränkten. Außerdem beschlossen wir, Pfannkuchen aus Hafer, Graupen, Gerste und Linsen zu backen und noch vieles, vieles andere.
Aber genug geschrieben, meine Finger sind schon ganz steif vor Kälte.
4. Januar
Heute endlich haben wir Aka weggeschafft. Uns ist richtig ein Stein vom Herzen gefallen. Es ist alles wirklich glatt gegangen. Die Toten gibt man, sobald der Papierkram erledigt ist, den Trägern und dann direkt auf den Laster und zum Wolkowo-Friedhof. Zu der Ablieferungsstelle zieht sich eine Kette von Schlitten mit Verstorbenen. Auf einigen Schlitten sind zwei oder drei Leichen. Ja, es sterben viele.
Heute Morgen ging ich um Viertel nach sieben Brot holen. In der Bäckerei in Haus 28 gab es kein Brot. Ich bin zur Bäckerei hinter dem Kino »Prawda« gegangen und stand eineinhalb Stunden draußen in der Schlange. Aber dafür bekam ich sehr leckeres Brot, noch ganz warm, weich, luftig, deshalb aß ich es, kaum dass ich zu Hause war, fast ganz auf mit heißem Tee dazu.
Danach haben wir Aka weggebracht und sind gerade zurück, befreit von dieser unangenehmen Sorge.
Akas Lebensmittelkarten mussten wir leider abgeben. Sonst hätte Genosse Jakowlew nicht die Sterbeformalitäten erledigt. Das ist sehr ärgerlich, aber was soll man machen. So muss es eben sein.
Jetzt haben Mama und ich jede 200 g Brot am Tag. Vielleicht schafft sie es, die Stelle am Theater zu bekommen und Arbeitermarken zu erhalten. Vielleicht wird die Brotration erhöht, aber erst mal wird es sehr schwer werden. Aber es wird schon werden, nur nicht den Kopf hängen lassen. Der Teufel ist nicht so schrecklich, wie sie ihn malen.
8/I
Mamas und meine Lage ist sehr schwer. Bis zum Ende der ersten Dekade bleiben noch zwei Tage, aber in den Kantinen bekommen wir nichts, weder auf meine noch auf Mamas Marken. Wir müssen also diese zwei Tage mit dem einen Teller Suppe auskommen, der mir zusteht. Wir können zwar noch drei Frikadellen bekommen, aber es ist noch gar nicht sicher, ob es überhaupt Frikadellen geben wird.
Heute habe ich einen zweiten Teller Suppe erbettelt, aber morgen kann ich das nicht noch einmal tun. Das Gewissen erlaubt mir nicht, jeden Tag so zu betteln.
Mama kam aus dem Theater und brachte zwei Gläser Kaffee, eine Portion Fruchtgelee und eine Frikadelle aus Pferdefleisch mit. Jetzt werden Mama und ich den Kaffee mit dem Gelee trinken, und abends, gegen fünf Uhr, werden wir jede einen Teller Suppe essen, und die Frikadelle heben wir für morgen auf. Irgendwie müssen wir es bis zum Ende der ersten Dekade schaffen und dann für die zweite Dekade alles streng einteilen.
So ein Pech: Heute stand ich drei
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