Lenke meine Fuesse Herr
wunderschönen Golden Retriever an der Leine an uns vorbeistiefeln, die uns augenscheinlich nicht bemerken. Dabei trage ich seit heute früh stolz meine Jakobsmuschel am Hut — Inge hat sie mir angenäht, nachdem ich mit der Ahle meines Leatherman-Tools zwei Löcher hineinfabriziert hatte.
Nun geht es auf historischen Wegen steil nach oben. Stufen, uralte in den Fels eingefahrene Karrenspuren. Der Hochwald duftet nach Bärlauch — der ganze Boden ist mit den blühenden Pflanzen bedeckt. Der Weg ist nicht ganz ungefährlich: laubbedeckt, streckenweise gerade mal einen halben Meter breit und rechts geht es senkrecht hundert Meter runter — man könnte den Autos aufs Dach spucken, die unten auf der Passstraße fahren. Und mehr als einmal fürchtet man um Leben und Gesundheit der Motorradfahrer, die sich blind in eine Kehre stürzen, ohne zu sehen, was wir sehen: Gegenverkehr! Doch da unten machen wohl Schutzengel Überstunden. Endlich sind die steilen und schwierigen Abschnitte überwunden, es geht nur noch mäßig ansteigend durch ein weites Hochtal mit lautstarken Kuhglocken, auch mal über die Bahnlinie, und bald sind wir am Brüningpass: von 483 m in Sachseln auf 1007 m am Bahnhof.
Wir finden etwas abseits der Straße einen Gasthof mit Matratzenlager. Inge und ich haben einen ganzen Schlafsaal für uns alleine, sie darf sogar die Privatdusche der Wirtin benutzen, denn der große Gemeinschaftsduschraum ist nicht abschließbar. Wir essen eine Kleinigkeit und nehmen mit herzlichen Umarmungen Abschied von Denise. Die hat noch eineinhalb Stunden Abstieg zum Bus vor sich, denn sie muss heute zurück nach Zürich. Abends gibt es ein sehr gutes Pilgermenü (Halbpension hat 50,00 CHF gekostet — günstig für diesen Ort!) Wir zahlen, Inge geht schlafen und ich schreibe noch ein bisschen Tagebuch. Es ist viertel vor zehn: gute Nacht!
Montag, 16. Mai 2005
Brünig — Brienz/Interaken — Merligen 26 km + Schiff
Um halb sechs bin ich wach. Im Schlafsaal war es so warm, dass ich im Lauf der Nacht aus dem Schlafsack gekrabbelt bin und mich nur zugedeckt habe. Ich glaube, ich muss mir noch einen leichteren kaufen, so einen Hüttenschlafsack, will ich in den Herbergen in Südfrankreich und Spanien nicht verkochen...
Der Himmel draußen ist bedeckt und während Inge und ich frühstücken, beginnt es zu regnen! Poncho übergezogen, und als mir die Bedienung auf meine Frage nach der Wegbeschaffenheit antwortet: „Der Weg ins Tal ist genauso wie der hier herauf, sogar noch schwieriger!“, da kann ich es nicht verantworten, mit Inge bei diesem Regen über schlüpfrige Felsen und nasses Laub abzusteigen. Das wäre bodenloser Leichtsinn! Inge ist sehr damit einverstanden und so laufen wir die Passstraße hinab. Es geht ziemlich flott — der Wanderführer schreibt von eineinhalb Stunden Weg, doch wir sind in einer knappen dreiviertel Stunde unten — aber nass wie begossene Pudel!
Wir beschließen, uns im „Bären“ etwas aufzuwärmen — ein innen wie außen uriges Lokal. Als wir dort ankommen, sehen wir gerade einen der beiden Jakobspilger mit Hund abziehen, die uns gestern in Obsee aufgefallen waren. Ich trinke im Bären eine heiße Ovomaltine, Inge einen Kaffee, und als wir den Gasthof verlassen, steht dort der „Jakobspilgerhund“ samt Frauchen, und die sieht etwas sorgenvoll aus: „Entschuldigen Sie, haben Sie vielleicht ein Handy dabei?“ Der Wiener Tonfall ist unverkennbar. Sie hat ihren Mann verloren, der vorausgegangen war. Wir versuchen mit meinem und Inges Handy unser Bestes, doch wir erreichen ihn nicht. Schließlich beschließt die Frau, vom Gasthof aus über Netz in Wien anzurufen: Von dort aus soll man ihren Mann benachrichtigen, dass sie und der Hund im „Bären“ warten...
Inge und ich marschieren weiter — es hat aufgehört zu regnen — und da kommt uns der Mann äußerst eilig entgegen. Wir wundern uns nur, dass er ohne Gepäck ist! Im nächsten Ort liegt auf einer Bank unter der Dorflinde ein einsamer Rucksack. „Da hat aber einer ein großes Gottvertrauen!“, meine ich und Inge pflichtet mir bei. Doch da kommen sie auch schon zu dritt: Dagmar, Andi und Benni, der sechsjährige Golden Retriever. Sie sind etwa fünfzig, haben Kinder und Enkel und gehen den Jakobsweg abschnittsweise ab Wien. Vorgestern sind sie in Einsiedeln gestartet und wollen jetzt bis Genf. Heute haben sie im „Bären“ übernachtet — irgendwie hat es sich ergeben, dass Andi vorging und Dagmar war mit Benni einer
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