Lenke meine Fuesse Herr
Kirche — und da bin ich verzaubert! Uralter Bau, im Schiff weißgestrichene Holzbalkendecke, im Chor ein einziges Fenster hinterm Altar. Hier muss man innehalten, mit Leib, Geist und Seele Atem schöpfen. Ich finde das Pilgerbuch und schreibe als Gebet mein Pilgerlied hinein.
Weiter, durch glühende Hitze! Endlich, gegen vier Uhr, erreichen wir La-Cote-de-Saint-André, die Geburtsstadt von Hector Berlioz. Während ich vergnügt vor mich hinsumme, kommen wir am alten Schloss Ludwigs XI. vorbei, steile Treppen hinab zu den Markthallen und schließlich, am Bahnhof vorbei auf die endlose Allee. Endlich geht es links ab zum Waisenhaus, während die Allee sich am anderen Ende des Tales im Wald verliert, schnurgerade bis zum Horizont.
Wir sind über eine Stunde zu früh — doch wir finden uns in einem wunderbar ruhigen Innenhof wieder, fast schon ein Kreuzgang zu nennen, aber vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Abgeschieden von der Hitze und vom Lärm der Sportplätze außen rasten wir, schreiben, hängen unseren Gedanken nach. Ein junger Mann kommt, Elsässer aus Straßburg, der sich gerne mit uns auf Deutsch unterhält, dann kommt der Hausvater.
Ich lebe!
Mit allen Sinnen!
Der Druck meines Gewichtes auf den Füßen! Der spitze Stein unter der Sohle meiner Sandale!
Der Schweiß, der die Griffe meiner Stöcke glatt macht und von keiner Stirn tropft! Das Brennen der Sonne auf meinen Schultern!
Das melodiöse Flöten eines Pirols, das monotone Gurren der Holztauben! Das Knirschen des Rucksacks, sein Gewicht auf meinen Hüften, der Zug der Trageriemen an den Schultern!
Der Duft nach Heu und Blumen, der aromatische Wind, der mein Gesicht kühlt, leise im Gras rauschend. Das Wogen des Gerstenfelds neben mir, sattgrün mit erstem goldenem Schimmer!
Tausenderlei verschieden Grüns, die dem Auge wohl tun!
Das Keuchen beim Aufstieg, das befreite Ausschreiten in der Ebene!
Ich bin auf dem Jakobsweg!
Ich spüre, dass ich lebe!
Um sechs Uhr haben wir unsere Schlüssel und kommen nur eine winzige Idee zu spät zur Messe: Wir hatten in der Hauskapelle gesucht, die aus Sicherheitsgründen nicht benutzt werden darf. Ich verstehe nicht viel von der Predigt — es geht, wie ich glaube zu hören, um die Transsubstantiation — unerklärlich, unglaublich, doch: Bei Gott gibt es das Wort „unmöglich“ nicht! Und dann der Gedanke: Im Tod muss man die Kommunion empfangen, um mit Jesu Fleisch im Leib leiblich zu Jesus zu kommen — einleuchtend: Mit Gott zu Gott — doch irgendwie fremd. Ich scheue mich nicht, die Kommunion zu empfangen, behalte jedoch später im Gespräch mit dem Priester meine Konfession für mich, um ihn nicht in Gewissensnöte zu stürzen. Was mich beeindruckt, ist die inbrünstige Frömmigkeit, die ich in der Gemeinde spüre. Ich sehe zum ersten Mal, wie sich Menschen zum Empfang der Kommunion auf die Knie fallen lassen und sich bekreuzigen. Wir zwei Fremden sind in der kleinen Gemeinde natürlich aufgefallen. Wir werden gefragt, woher und wohin; und dann sagt eine der Frauen den Satz: „Betet in Santiago für uns, wir beten für euch!“
Nach der Messe gibt uns der Priester, ein ganz lieber weißhaariger und — bärtiger alter Herr hoch in den Siebzigern, unser Abendessen aus der Küche: Wir können es uns oben im Pilgerappartement in der Mikrowelle warm machen. Während wir essen, kommt er noch einmal, bringt uns zwei Kiwis und wünscht uns gute Nacht. Morgen sechs Uhr dreißig Frühstück!
Sonntag, 29. Mai 2005
La-Cote-de-Saint-André – Saint-Romain-de-Surieu 41 km
Um fünf Uhr bin ich wach, kann nicht mehr einschlafen und mache mich langsam marschbereit. Kühle Morgenstimmung — herrlich! Ich reinige und fülle Trinksystem und Flaschen, dusche und bin um sechs Uhr fertig. Als Gerhard und ich um halb sieben ins Erdgeschoß kommen, erwartet uns der Priester bereits, führt uns in den Speisesaal, wo schon alles bereit steht und verabschiedet sich herzlich von uns.
Um sieben wandern wir die endlose Allee Hector Berlioz hinauf und finden an der Markthalle den „Jackl“ wieder. Die Kirche, die wir besichtigen wollen, ist, wie könnte es anders sein, abgesperrt. Erstmal geht es natürlich den Berg hoch und wieder hinunter; noch ist es kühl und wir kommen flott voran. Am Teich von Faramans sprechen uns vier alte Herren an, quetschen uns aus, woher, wohin, wie weit, wie lang, erzählen von anderen Pilgern, die hier vorbeigekommen sind und viel fotografiert haben — ein interessierter, herzlicher
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