Lenke meine Fuesse Herr
loskommen: Er ist zwar ein netter Kerl, doch immer wieder die gleichen Stories anhören müssen, kaum dass er mal eine Stunde schweigt, das Gefühl, dass er sich in jeder Hinsicht auf mich verlässt — er spricht weder Englisch noch Französisch, geschweige denn Spanisch. Ich möchte und muss wieder alleine gehen! Doch über der Routine des Packens, Frühstückens, Loslaufens verflüchtigt sich dieses Vorhaben. Wir steigen im Nieselregen den Berg hinab und sind noch einmal froh, dass wir gestern das Hinweisschild zur Gîte gesehen haben — es wäre grausam gewesen, hier wieder hinaufsteigen zu müssen! Die Kirche, die der Wanderführer so lobt, ist natürlich abgeschlossen.
Es geht bergauf in den Wald — eine alte Dame gießt die Blumen neben ihrem Hoftor und grüßt freundlich. Hier im Wald ist der Regen kaum spürbar — eher ein penetrantes Nieseln. Ich schlage den Poncho zurück und lege ihn auf dem Rucksack ab, denn ich schwitze darunter. Doch sobald wir auf das freie Feld kommen, brauche ich ihn wieder, denn es wird unangenehm feucht und klamm. Durch ein, zwei Dörfer, wieder einmal über einen Bergrücken, dann ein Stück die Autobahn entlang und über die Brücke. Wenn man so über der Autobahn steht, sieht man erst, wie gefährlich dicht manche auffahren — besonders die Kleintransporter tun sich da hervor.
Die Kirschen sind reif — fast in jedem Garten steht ein übervoller Baum, auf den Wiesen, die wir durchqueren, die Feldwege entlang. Immer wieder holen wir uns im Vorübergehen eine Handvoll — Pilgerprivileg!?
Langsam wird’s Zeit für eine Rast. Mein Rucksack hat anscheinend eine eingebaute Uhr: Nach eineinhalb, spätestens zwei Stunden fängt er an zu drücken. Da, auf der überdachten Laderampe eines verwaisten „ Agri Sud-Est“-Lagerhauses steht ein Sofa! Absatteln, ein bisschen essen, trinken — wir sitzen weich und vor allem trocken. Ein Sattelzug fährt auf den Hof, der Fahrer fragt etwas, ich radebreche: „Nous ne sommes pas d’ici et ne parlons pas français!“ Er wendet, kommt nach zehn Minuten wieder, wendet und fährt weg, kommt zurück, wendet, fährt weg... Wir amüsieren uns köstlich. Wahrscheinlich sucht er nach dem Lagerhaus und man schickt ihn immer wieder hierher.
Weiter. Der Regen hat aufgehört und ich kann meinen Poncho verpacken. Es geht wieder einmal über einen Bergrücken und dann steile Treppen hinab in einen Ort. Jetzt haben wir das Rhônetal vor uns: weit, dicht besiedelt, hektarweise Netze über Obstplantagen — und jenseits himmelhohe Berge über die wir drüber müssen! Asphaltstraßen nach St. Alban; das Atomkraftwerk kommt immer näher. Hinter der Leitplanke auf dem Straßendamm über einer Vorortsiedlung hinauf zu einer Brücke: die Rhône. Breit wie der Rhein bei Koblenz, mächtig, schiffbar. Jenseits liegt Chavanay, das wir uns als Ziel unserer heutigen Kurzetappe ausgesucht hatten. Doch es ist gerade mal viertel nach eins und da ist es für uns klar: Ultreia! Weiter!
Wir beschließen, heute bis Maclas zu gehen — dort empfiehlt der Führer ein Hotel und der Ort liegt nur einen Kilometer abseits des Chemin. Wir durchqueren das liebevoll gepflegte alte Städtchen, dann kommt ein steiler Aufstieg zu einer renovierten Kapelle mit einem herrlichen Ausblick über die Rhône-Ebene. Weiter steil aufwärts — ich glaube, die Rhône hier ist bis Santiago der tiefste Punkt des ganzen Jakobsweges und Maclas liegt vierhundert Meter hoch! Und dann haben wir die Markierung verloren — die Skizzen im Wanderführer verwirren auch eher, als dass sie helfen. Wir kommen an einer Weinkellerei vorbei und da fragen wir nach dem Weg. Die großen Fässer, der Weinduft, die freundlichen Menschen — am liebsten würde ich hier bleiben und stillvergnügt vor mich hin zechen! Die ganze Gruppe von Weinbauern und Kunden rät uns nach temperamentvollem Palaver: „Geht einfach immer diese Straße entlang, und wo sie zu Ende ist, biegt links ab — das ist der sicherste Weg!“
Endlich sind wir in Maclas und finden das Hotel du Parc: eine Rarität! Augenscheinlich — ein altes Photo lässt mich das glauben — hat die alte Dame, der das Hotel gehört, es Anfang der Dreißiger Jahre als junges Mädchen übernommen, komplett eingerichtet — und seitdem wurde kein Finger gerührt, es zu modernisieren! Wir bekommen ein großes Zimmer mit zwei breiten Betten, Waschbecken und Bidet hinter einem dezenten Wandschirm. Die Tapete ist zerfetzt, die Dielen knarren, antike
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