Lennox 02 - Lennox Rückkehr
gingen wir das kurze Stück zu ihrer Wohnung. Die meisten Gebäude in der Nachbarschaft waren Mehrfamilienhäuser, dazu kamen einige Stadthäuser und hin und wieder eine Villa. Das Haus, in dem Sheila Gainsborough wohnte, bildete eine Unterbrechung der schmutzigen viktorianischen und gregorianischen Fassaden: ein Art-déco-Block, ungefähr dreißig Jahre alt. Eines der interessantesten Dinge an Glasgow war die Vielfalt und der Variantenreichtum seiner Architektur: viktorianisch, Slum, Art déco, Slum, modern, Slum ...
Das Haus hatte Klasse. Sheila führte mich in ein großes, helles Foyer, das einen glauben machte, man wäre in den Zwanzigerjahren gelandet. Ein livrierter Portier, der die Haltung eines alten Soldaten zeigte, vom Alter her allerdings eher gegen den Kaiser als gegen den Führer gekämpft hatte, begrüßte uns stramm, und wir nahmen den Aufzug ins oberste Stockwerk.
»Möchten Sie einen Drink?«, fragte Sheila, während sie ihre Handtasche und ihr Kopftuch auf einen Stuhl in der Diele fallen ließ. »Sie sehen aus, als könnten Sie einen brauchen.«
»Ich könnte einen brauchen, aber er würde mich wahrscheinlich aus den Schlappen hauen.« Ich ging ins Wohnzimmer. Die ganze Wohnung war sauber und ordentlich. Das Mobiliar gehörte, wie die Architektur, zum Art déco und war schlicht und geschmackvoll – auf die subtile Art, die einem verrät, dass einfach und geschmackvoll teurer ist. Das Wohnzimmer hatte ein großes Panoramafenster, das nur zwei weit auseinanderstehende, dünne weiße Pfosten unterbrachen. Man konnte über die Stadt, auf die Universität und auf Kelvingrove blicken.
»Bitte«, sagte Sheila und bot mir mit einer ungeduldigen Handbewegung Platz an. Ich setzte mich. Ich glaube, wenn Sheila Gainsborough mir befohlen hätte, aus dem Fenster zu springen, hätte ich ihr auf der Stelle gehorcht. Sie blieb stehen und verschränkte die Hände. »Geht es um Sammy?«, fragte sie besorgt.
Ich schüttelte den Kopf. »Sammy geht es gut. Ich habe ihn gestern Abend gesehen.«
»Gott sei Dank, er ist in Sicherheit ...« Tränen der Erleichterung ließen ihre Augen glänzen.
»Es tut mir leid, Miss Gainsborough, aber ich glaube nicht, dass er in Sicherheit ist. Ich habe ihn gestern Abend gesehen, und es geht ihm gut, aber er steckt in Schwierigkeiten. Und er hat große Angst.«
»Um Himmels willen! Warum haben Sie ihn dann nicht mitgebracht?«
»Weil mir jemand eins über den Schädel gegeben hat, sodass ich bewusstlos wurde. Sammy und seine Freundin – und sein schlagfertiger Freund – sind verschwunden, während ich die Schäfchen zählte.«
Ihr Gesicht fiel regelrecht in sich zusammen. Sie tat mir leid, aber ich hatte nicht viel, um die Sache in ein positives Licht zu rücken.
»Ich fürchte, dass Sammy sich in große Schwierigkeiten gebracht hat«, fuhr ich fort. »Etwas, das ihm über den Kopf gewachsen ist. Erinnern Sie sich an Paul Costello? Der Kerl, der in Sammys Wohnung aus und ein ging, wie es ihm passte?«
Sheila nickte.
»Ich vermute, dass es der junge Mr. Costello war, der mich bewusstlos geschlagen hat. Sie stecken zusammen drin. Was immer es ist.«
»Ich wusste, dass Sammy sich mit den falschen Leuten einlassen würde ...« Sie zeigte ein niedliches Stirnrunzeln. »Wo haben Sie ihn gefunden?«
»Er kampierte in einem verlassenen Bauernhaus mitten im Nirgendwo. Ich fand ihn nur, weil ich einem Mädchen Angst gemacht hatte, mit dem er zusammen ist – sie heißt Claire Skinner –, und ihr folgen konnte.«
»Er hat kampiert?« Ihre Augen glänzten noch mehr. »Und was tun wir jetzt?«
»Ich suche weiter nach ihm. Es könnte sein, dass er sich mit Ihnen in Verbindung setzt. Er sah hungrig und müde aus. Ich nehme an, er braucht Geld. Wenn er sich bei Ihnen meldet, müssen Sie es mir mitteilen. Ganz gleich, was er sagt, ich muss es wissen. Haben Sie verstanden?«
»Ja.«
»In diesem Bauernhaus habe ich etwas Merkwürdiges gesehen. Eine kleine Drachenstatue. Sie sah aus, als wäre sie aus Jade. Vom Aussehen her chinesisch. Sagt Ihnen das irgendetwas?«
Sie schüttelte den Kopf. »Glauben Sie, sie haben diese Figur gestohlen?«
»Da bin ich mir sogar sicher. Ich weiß nicht, ob sie deshalb glauben, der Teufel wäre ihnen auf den Fersen.«
»Wo können sie einen solchen Gegenstand gestohlen haben?«
»Weiß ich auch nicht. Aber vielleicht kenne ich jemanden, den ich fragen kann.«
12.
So überraschend es sich anhören mag, ich war ein belesener Mensch. Ich las wirklich
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