Lennox 02 - Lennox Rückkehr
fortschrittlich aus. Dass May am Scheitern der Ehe unschuldig gewesen war, spielte keine Rolle: Jede Scheidung, egal aus welchem Grund und in welcher sozialen Schicht, setzte eine Frau weit außerhalb jeder presbyterianischen Achtbarkeit. May und ich waren ein paar Mal zusammen im Bett gewesen; trotzdem wollte ich gern glauben, dass ich sie nie wirklich benutzt hatte. Andererseits glaubte ich auch gern, dass es den Weihnachtsmann gab.
Ich fand May, wo ich sie erwartete, hinter dem Tresen in der Bar des Hotels Imperial. May hatte eine atemberaubende Figur, aber ein völlig langweiliges Gesicht, das oft von Traurigkeit oder Erschöpfung überschattet war. Als ich in die Bar kam, trug sie eine konservative weiße Bluse und einen schwarzen Rock, die übliche Bekleidung der Hotelangestellten. Die Gäste sollten eher an Kellnerinnen denken als an Bardamen. May hatte mir schon einen Bourbon eingeschenkt, ehe ich die Theke erreichte.
»Was ist los, Lennox? Hast du Arbeit für mich?«, fragte sie mit einem Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte.
»Ja, aber nicht das Übliche«, sagte ich. May übernahm hin und wieder die Aufgabe von mir, sich zu einer verabredeten Zeit in einem Hotelzimmer einzufinden und sich voll bekleidet unter die Bettdecke zu legen. Neben ihr lag dann ein voll bekleideter Mann im zumeist mittleren Alter. Ich kam anschließend mit einem Hotelangestellten ins Zimmer, und ein paar Monate später berichteten wir alle einem Scheidungsrichter von dem Vorfall, als wäre es keine abgekartete Sache gewesen, obwohl jeder es wusste. Das britische Gesetz gestattete die Scheidung, aber nur auf britische Art: bürokratisch, langwierig und mehr als nur ein bisschen anrüchig. Was mir wunderbar ins Konzept passte. Mit inszenierten Ehebrüchen, um eine Scheidung zu rechtfertigen, hatte ich schon viel Geld verdient.
»Was meint du damit, nicht das Übliche?« May sah mich mit solchem Misstrauen an, als hätte sie den Verdacht, ich wollte ihr vorschlagen, ihre Mutter als Sklavin nach Marokko zu verkaufen.
»Keine Bange, nichts Unerlaubtes. Ich versuche mit einer jungen Frau in Verbindung zu treten, die in einem Wohnheim der Corporation wohnt. Die Vorsteherin will mich nicht reinlassen, und ich kann nicht vor der Tür parken, bis sie sich zeigt.«
May zog eine bereits gewölbte Augenbraue hoch.
»Nicht dass du den falschen Eindruck bekommst«, sagte ich. »Ich suche einen Vermissten, und das Mädchen war vielleicht die Letzte, die den Burschen gesehen hat, ehe er verschwunden ist. Ich möchte, dass du sie aufsuchst und sie bittest, sich mit mir zu treffen, damit ich ihr ein paar Fragen stellen kann. Wenn sie dir sagen kann, wo der Kerl zu finden ist, reicht mir das auch.«
»Wann?«
»Wann bist du hier fertig?«
»Meine Schicht ist um neun zu Ende.«
Ich schaute auf die Uhr. Wir hatten viertel nach acht. Natürlich hätte ich bleiben, meinen Bourbon trinken und mit May schwatzen können, bis ihre Schicht zu Ende war, aber das hätte uns beide in Verlegenheit gebracht. »Gut, ich hole dich ab.«
Ich trank den Bourbon halb aus, um den Anschein zu wahren, bezahlte und ging hinaus zu meinen Wagen. Wenn ich mir überlegte, dass ich mit May etliche Male intim gewesen war, deprimierte mich das sterile, geschäftsmäßige Gespräch, das wir gerade geführt hatten, ein wenig. Andererseits war auch unsere Intimität meist steril und geschäftsmäßig gewesen.
Ich versuchte Lorna aus der Telefonzelle an der Ecke Bath Street zu erreichen. Noch immer nichts. Ich schaute wieder auf die Uhr. Ehe ich zu Lorna fahren könnte, wäre es zehn.
***
Nachdem ich die halbe Stunde totgeschlagen hatte, ging ich May abholen. Sie kam in einem leichten Mantel und einem hübschen schwarzen Hut aus dem Hotel. Die Kleidungsstücke wirkten wie neu, aber ich hatte May schon öfter darin gesehen, als ich zählen konnte. Während der Rest Schottlands die Sparmaßnahmen allmählich hinter sich ließ, musste eine geschiedene Glasgowerin, die hinter der Theke schuftete, weiterhin zusehen, dass ihre Garderobe möglichst lange hielt.
Ich schaltete das Radio ein, während wir nach Partick fuhren. Mel Tormé sang und ersparte uns beiden die Mühe, ein Gespräch zu beginnen. Ich weiß nicht, was zwischen May und mir vorging, aber es beruhte auf Gegenseitigkeit. Es war beinahe so, als stünden wir beide kurz davor, die Vergangenheit hinter uns zu lassen und andere Menschen zu werden. Und jeder bedeutete für den anderen eine peinliche Erinnerung
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