Lenobias Versprechen: Eine House of Night Story (German Edition)
sich ganz aus den Wellen des Horizonts gelöst hatte, eilte sie geschwind und lautlos die Treppe hinab.
Martin war schon dort. Er saß auf einem Ballen Heu, in die Richtung gewandt, aus der sie üblicherweise kam. Die Grauen wieherten zur Begrüßung, worauf sie lächeln musste, doch als sie Martin ansah, schwand ihr Lächeln. Das Erste, was sie bemerkte, war, dass er ihr keinen Schinken, Käse oder Brot mitgebracht hatte. Das Zweite, was sie bemerkte, war sein völlig ausdrucksloses Gesicht. Selbst seine Augen schienen dunkler als sonst, wie erloschen.
Seine Stimme war ebenso ausdruckslos wie seine Miene. »Wie soll ich dich nennen?«
Sie versuchte, nicht auf sein seltsames Verhalten und das schreckliche Gefühl zu achten, das es in ihr auslöste, und antwortete, als hätte er sie gefragt, welche Bürste sie heute nehmen wollte – als wäre alles in Ordnung. »Ich heiße Lenobia, aber ich mag es, wenn du mich ma belle nennst.«
»Du hast mich angelogen.« Bei seinem Ton verflüchtigte sich ihr Vorsatz, den Schein aufrechtzuerhalten, und ein eisiger Hauch der Zurückweisung durchlief sie.
Ihre Augen flehten ihn an, doch zu verstehen. »Nicht mit Absicht.«
»Egal. Lüge ist Lüge.«
»Na gut. Würdest du gern die Wahrheit hören?«
»Kannst du sie denn erzählen?«
Es war, als hätte er sie geschlagen. »Ich dachte, du würdest mich kennen.«
»Dachte ich auch. Und ich dachte, du vertraust mir. Vielleicht habe ich mich geirrt, beide Male.«
»Ich vertraue dir. Dass ich in Wahrheit nicht Cécile bin, habe ich dir nur deshalb nicht gesagt, weil ich, wenn wir uns sahen, einfach nur ich war. Zwischen uns gab es keine Täuschung. Nur dich und mich und die Pferde.« Sie blinzelte die Tränen zurück und ging ein paar Schritte auf ihn zu. »Ich würde dich nie anlügen, Martin. Gestern hast du mich zum ersten Mal mit ihrem Namen angesprochen, mich Cécile genannt. Weißt du noch, wie eilig ich mich da verabschiedet habe?« Er nickte. »Das lag daran, weil mir einfiel, dass ich mich für eine andere ausgeben sollte, sogar vor dir.«
Es folgte ein langes Schweigen. Dann fragte er: »Hättest du es mir je gesagt?«
Sie zögerte nicht. Es war ihr Herz, das zu seinem sprach. »Ja. Ich hätte es dir gesagt, sobald ich dir gesagt hätte, dass ich dich liebe.«
Da kam wieder Leben in sein Gesicht. Er trat ihr entgegen. »Nein, ma belle . Du kannst mich nicht lieben.«
»Nicht? Ich tue es doch schon.«
»Es ist unmöglich.« Martin nahm ihre Hand, hob sie sanft an und hielt dann seinen eigenen Arm neben ihren, Seite an Seite. »Siehst du ihn, den Unterschied?«
Sie betrachtete ihre beiden Arme, ihre Körper. »Nein«, sagte sie leise. »Ich sehe nur dich.«
»Sieh mit den Augen, nicht mit dem Herzen. Sieh, was andere sehen!«
»Andere? Was kümmert es uns, was sie sehen?«
»Die Welt ist wichtig, wichtiger, als du vielleicht verstehst, ma belle .«
Sie sah ihn an. »Also machst du dir mehr daraus, was andere denken, als was wir beide fühlen?«
»Du verstehst nicht.«
»Ich verstehe genug! Ich verstehe, wie ich mich fühle, wenn wir zusammen sind. Was gibt es sonst noch zu verstehen?«
»Viel, viel mehr.« Er ließ ihre Hand fallen, wandte sich ab, trat zum Stall und blieb neben einem der beiden Grauen stehen, die den Austausch neugierig beobachteten.
Sie sprach zu seinem Rücken: »Ich sagte, dass ich dich niemals anlügen würde. Kannst du das auch von dir sagen?«
Er drehte sich nicht um. »Ich würde dich niemals anlügen.«
»Liebst du mich? Sag die Wahrheit, Martin, bitte.«
»Die Wahrheit? Was ist die Wahrheit in einer Welt wie dieser?«
»Für mich ist sie alles.«
Er drehte sich um, und sie sah, dass Tränen über seine Wangen liefen. »Ich liebe dich, chérie . Es zerreißt mich, aber ich liebe dich.«
Ihr Herz schien in die Höhe zu schweben. Sie trat neben ihn und nahm seine Hand. »Ich bin nicht mehr mit Thinton de Silegne verlobt.« Sanft begann sie, ihm die Tränen von den Wangen zu streichen.
Er bedeckte ihre Hand mit der seinen und drückte sie an seine Wange. »Sie werden einen anderen für dich finden. Einen, dem deine Schönheit wichtiger ist als dein Name.« Er verzog das Gesicht, als schmerzten ihn die Worte.
»Dich! Warum nicht dich? Ich bin ein Bastard, ich kann doch sicher einen Kreolen heiraten.«
Martin lachte freudlos. » Oui, chérie. Ein Bastard kann einen Kreolen heiraten – ein schwarzer Bastard. Ein weißer nicht.«
»Dann kann mir das Heiraten gestohlen
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