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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
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dabeibleiben zu können, aber der Chef erinnerte mich an die Schulklasse, die durch unsere Kulturen geführt werden sollte, und sagte: Übernimm du’s einmal für mich, Bruno, an solch einem schönen Tag schaffst du’s schon; und er sagte auch noch: Denk an heute abend, ich möchte dich dabei haben.
    Sie warteten schon an unserem hölzernen Eingangstor, zwanzig oder fünfundzwanzig Kinder, sie jagten sich da herum, lümmelten sich an den Pfosten, schubsten sich und hüpften, da konnte die junge Lehrerin sie noch soviel berufen, die gemischte Klasse blieb immer in Bewegung, war eingehüllt in Geschrei und Gequietsche. Nein, sagte ich, ich bin nicht Herr Zeller, Herr Zeller hat Besuch aus Amerika, und darum bin ich gekommen, mein Name ist Bruno. Die Kinder waren nicht gleich alt, mir fielen sofort ein paar sehr kleine Mädchen auf, die feines Zeug anhatten und sich bei den Händen hielten, artig und ernst, im Gegensatz zu einigen Jungen. Nachdem die Lehrerin sie zusammengescheucht hatte, verkündete sie: Also, Kinder, hört zu, und denkt daran, was wir gelernt haben, und dann zog und schob sich unsere Ziehharmonika erst einmal zu den Frühbeeten, wo ich dem unruhigen Volk zeigte, wie Koniferen durch Stecklinge vermehrt werden, wie Stecklinge sich bewurzeln. Später zeigte ich ihnen Augenstecklinge und Blattstecklinge, und beim Findling, da setzten sich alle hin, und ich machte ihnen vor, wie veredelt wird, Geißfuß und Pfropfen, was einige so interessierte, daß sie ihre Taschenmesser herausholten und es mir nachmachten. Am wenigsten interessierten sie die Bodenpflege und die Pflanztermine; auch wie wir die Quartiere einteilten, interessierte sie nicht, da konnte ich reden, wie ich wollte, sie guckten immer nur woandershin oder beschäftigten sich miteinander. In der Maschinenhalle aber schwärmten sie gleich aus, erprobten Hebel und verstellbares Gestänge, versteckten sich voreinander und erschreckten sich und kletterten auf die Maschinen hinauf.
    In der Maschinenhalle: plötzlich packte ich eins der kleinen Mädchen an den Hüften, hob es hoch und setzte es auf den Sattel einer Zugmaschine, trat zurück und ließ es da sitzen, doch anstatt sich zu freuen, begann das Mädchen gellend zu schreien, es schrie, als ob ich ihm wer weiß was getan hätte, es rutschte und fuchtelte auf dem Sitz herum und war im Nu ganz verschmiert von Tränen. Ist gut, sagte ich, ist ja gut, und wollte es wieder herabheben, da bog es sich zurück und schlug nach meinen Armen, das Mädchen wollte sich nicht berühren lassen von mir. Die Lehrerin mußte kommen, mußte die Kleine herabnehmen und trösten, allmählich hörte das Mädchen zu weinen auf, es suchte die Nähe seiner Freundin, die mich nur mißtrauisch und furchtsam beobachtete. Beide, und auch noch ein paar andere, wichen mir aus, sobald ich auf sie zutrat. Einmal streckte ich die Hand aus und sagte: Wollen wir uns nicht wieder vertragen; da begann das Mädchen abermals gellend zu schreien, die Lehrerin mußte es wegführen von mir, und nachdem die Kleine sich beruhigt hatte, kam sie zu mir und bat mich, die Kinder nicht anzufassen. Was ist denn, fragte ich, und die Lehrerin darauf: Angst, sehen Sie es denn nicht? Ein paar Kinder haben Angst vor Ihnen.
    Es half nicht, daß sie mir freundlich zulächelte, ich spürte schon, wie da in meinem Kopf ein kleines Gewitter aufzog, und ich dachte nur: zum Eingangstor, du mußt sie jetzt nur noch bis zum Eingangstor bringen, denn das erwartet der Chef, und ich ging ihnen voraus, unbesorgt, ob sie mir folgen könnten. Den Folientunnel, den ich ihnen sonst gern erklärt hätte, übersah ich einfach, ich lotste sie nur zum großen Holztor, nickte der Lehrerin zu und ging ganz schnell zu mir, schloß ab und legte Stange und Kette vor; das tat ich. Dann kniete ich mich hin, nicht vor dem Waschgestell, sondern am Fenster, und ohne zu warten, schlug ich mit dem Kopf aufs Fensterbrett, ein ums andere Mal, bis dem Dröhnen ein anderes Dröhnen antwortete, bis der befreiende Schmerz kam, der alles unterbrach und zurückdrängte. Ich ließ mich auf den Fußboden nieder, in meinem Mund schmeckte ich nur saures Wasser, ich machte keinen Versuch, aufzustehn, lag nur da und bemühte mich, meine Gedanken zu ordnen, doch es gelang mir nicht – noch bevor ich etwas beschloß, kam der Schlaf. Unter dem Fensterbrett, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, schlief ich ein.
    Der Chef klopfte nicht siebenmal, er hämmerte viele Male gegen meine Tür, er

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