Lenz, Siegfried
mich mitnehmen auf einen Gang zur Gerichtslinde, wieder einmal, und da er wußte, daß ich zuhause war, ging ich zur Tür – Heiner Walendy konnte mich nicht zurückhalten –, er bat und drohte, doch zurückhalten konnte er mich nicht. Im Augenblick, da ich hinausschlüpfte, entdeckte Max meinen Gast, er sah ihn an, ohne ihn zu erkennen, und stellte sich abseits und schwieg, als ich bei mir abschloß. Wir gingen zur Holle hinunter und den matschigen Weg entlang, der zur Gerichtslinde führt, immer wieder bot er mir seine Weinbonbons an, und wenn er überhaupt den Mund aufmachte, dann sprach er über das Alter, über das Älterwerden. Ich konnte ihm dazu nichts sagen, konnte ihn nicht trösten in seinen Enttäuschungen, die er mit dem Älterwerden hatte, er sagte: Alles kommt in die Jahre, Bruno, nicht nur wir, sondern auch die andern und alles, was wir gedacht haben und wofür wir eingetreten sind. Auch Ideen, sagte er, kommen in die Jahre, auch Hoffnungen und Erwartungen, sie lagern sich ab, was in die Jahre kommt, das verändert sich, ob es will oder nicht. Dagegen müssen wir uns wehren, Bruno; das hat er auch noch gesagt. Als wir am Weidengebüsch vorbeikamen, wollte er ein Stöckchen geschnitten haben, ich suchte ein gerades, biegsames für ihn aus, kappte es mit meiner Schwunghippe, zog berechnet den Bast ab und machte ihm einen Griff. Mit keinem Wort fragte er nach dem Gast, den er bei mir gesehen hatte, vermutlich wollte er gar nichts über ihn wissen, doch später, da hielt ich es nicht mehr aus, ich mußte ihm einfach sagen, daß ich Heiner Walendy aufgenommen hatte, den Jungen von früher, aus der Nachbarbaracke. Und ich erzählte ihm, was Heiner Walendy mit Frau Holgermissen erlebt hatte und wie er irrtümlich verhaftet und verurteilt worden war, darüber war Max nicht überrascht, er nickte lediglich ein paarmal, wie zu einer vertrauten Geschichte.
Die wacklige Bank unter der Gerichtslinde war besetzt, das sahen wir schon von weitem, dennoch setzten wir unsern Weg fort und fanden eine alte Frau und ein dickes freundliches Mädchen, das gleich zur Seite rückte, um uns Platz zu machen. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich meine alte Lehrerin wieder, Fräulein Ratzum, sie hatte ein ganz kleines, braunfleckiges Gesicht, auch ihre Hände waren braunfleckig, und ihre Augen wirkten milchig, wie zerkocht. Ich sagte ihr, daß ich Bruno sei, Bruno von damals, darauf suchte sie ein bißchen in ihrer Erinnerung und öffnete bedauernd die Hände; sie entsann sich nicht genau, ein wenig dämmerte ihr, doch nicht genug, um nachzufragen. Von Professor Zeller hingegen hatte sie gehört, sie freute sich, ihm zu begegnen, wenn auch nur hier draußen. Mit dem Sehen, sagte sie, sei es vorbei bei ihr, zum Glück aber komme Marlies an manchem Sonntag, die führt sie ein wenig aus und erklärt ihr, wie alles steht und liegt und was sich verändert hat; so sei sie im Bilde, immer noch. Wie sie dann weggingen, Hand in Hand; und je mehr sie sich entfernten, desto schwieriger war es zu entscheiden, wer wen führte.
Auf einmal bekam er wieder Lust, Fragen zu stellen, auf seine Art, zuerst fragte er so sonderbar, daß ich glaubte, mich verhört zu haben, denn er wollte tatsächlich von mir wissen, in wessen Besitz das Land hinter Lauritzens Wiesen sei, das ganze Land zwischen Bahndamm und Dänenwäldchen, und ich sagte: das gehört doch dem Chef, wem sonst? Und davor, fragte Max ruhig weiter, wem hat es davor gehört? Den Soldaten, sagte ich, als wir hier anfingen, war das ein Exerzierplatz, den der Chef zuerst nur gepachtet und dann gekauft hat. Es wunderte mich, daß er mir Fragen stellte, die er sich leicht selbst beantworten konnte, aber das tat er oft, ich weiß auch nicht, warum, ich weiß nur, daß es immer mit leichten, sonderbaren Fragen anfing und dann schwierig und schwieriger wurde.
Gut, Bruno, und vor den Soldaten, wem gehörte das Land vor den Soldaten? Keine Ahnung, sagte ich, und er darauf: Versuch’s dir einfach mal vorzustellen. Vielleicht hat das alles einem General gehört, sagte ich. Da lächelte Max und guckte mich von der Seite an und sagte: Gar nicht schlecht, Bruno. Nehmen wir einmal an, ein General hätte sich so verdient gemacht, daß er von seinem König dieses Land zur Belohnung erhielt, er benutzte es zur Jagd und verpachtete es, und als er sehr alt war, verkaufte er es an die Armee, als Exerzierplatz. Aber davor, wer hat es vor ihm und vor dem König besessen?
Das ist lange her, sagte ich,
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