Lenz, Siegfried
sollte, schien ganz versunken und der Welt abgekehrt, da konnte ich nicht einfach zu ihm hinspringen, das konnte ich nicht. Die Schaufel, vor mir lag die kleine Schaufel, mit der die Trauernden ein wenig Erde auf den Sarg hinabwerfen, ich hob sie auf und bewegte mich rückwärts fort, ich tat so, als wollte ich sie hinüberbringen zu Ina und den Kindern, die das Recht hatten, die Schaufel als erste zu benutzen, und ich glitt hinüber, ohne allzusehr beachtet zu werden, drückte die Schaufel in den Lehm und trat zurück und stellte mich neben den Schüttler. Der verharrte in seiner Trauer, der merkte wohl nicht einmal, daß ich mich neben ihn gestellt hatte, ein schwaches Zittern durchlief ihn von Zeit zu Zeit, und immer wieder krümmte er die Schultern und schüttelte sanft den Kopf. Mit seinem Murmeln ging er nicht auf Pastor Plumbecks Worte ein, ich mußte denken, daß er für sich seine eigene Grabrede hielt – so kam es mir vor.
Mitten im Schlußgebet blickte er auf und straffte sich, er sah mich an, ein zages Lächeln entstand auf seinem Gesicht, und auf einmal nickte er mir zu und ging, ging langsam und würdevoll an den Trauernden vorbei und weiter zur Backsteinkapelle, und dort verschwand er. Die Eingangstür der Kapelle war offen, es zog mich hinein, ich stand vor dem Hügel aus Kränzen, vor all den Sträußen, mit denen der Boden bedeckt war, der Duft der Lilien betäubte mich fast. Ich sah ihn nicht, doch weil ich seine Nähe spürte, trat ich an die Wand und wartete, und nach einer Weile rief ich leise, doch er meldete sich nicht, er gab keine Antwort. Ich glaubte, daß er sich in einer der beiden Kammern versteckt hatte, also ging ich auf Fußspitzen durch die Stuhlreihe und öffnete die erste Tür und linste in die ewige Dämmerung eines Abstellraums, ohne die paar Stufen hinabzusteigen, und danach zog ich die zweite Tür auf, nun schon damit rechnend, daß ich mich getäuscht hatte, auch die zweite Kammer diente als Abstellraum. Kühle Zugluft wehte mich an, ich wollte hinabsteigen, die hohen Steinstufen hinab, ich griff umsonst nach einem Geländer, auf ein scharrendes Geräusch drehte ich mich um, vielleicht zu heftig, ich weiß es nicht, ich drehte mich um und stieß irgendwo an, zumindest glaubte ich, daß ich mit dem Kopf irgendwo anstieß, in Wahrheit war es der Stoß, den er mir gab. Als ich fiel, da konnte ich gerade noch denken: Jetzt falle ich, und ich konnte auch noch denken, daß ich mich abstützen müßte, um den Sturz zu mildern, aber daß ich unten aufknallte, das fühlte ich nicht mehr.
Ich hab keine Handvoll Erde auf Guntram Glasers Sarg hinabgeworfen, später, da hab ich in Inas Auftrag ein Mandelbäumchen gepflanzt, doch ich war nicht dabei, als sie den Sarg hinabließen und Erde auf ihn warfen, ich bin auch nicht beim Begräbniskaffee im »Deutschen Haus« gewesen, wo es gedeckten Apfelkuchen gab und Streuselkuchen. Obwohl es in meinem Kopf so schlackerte und schwappte, als ob sich da etwas losgerissen hätte, kroch ich ohne Hilfe aus der Kammer, das dröhnte ganz schön im Freien, und ich weiß nicht, wie oft ich auf dem Weg zu mir anhalten, auf alle viere runter mußte, aber weil ich nur nach Hause wollte, schaffte ich es schließlich, nur abgeschlossen, das hab ich nicht hinter mir, das hab ich einfach vergessen.
Der Chef kam als erster zu mir, er rasierte mir einige Kopfhaare weg und säuberte die Wunde und klebte ein Pflaster drauf, das er eigens von der Festung für mich holte; er wollte nicht, daß ich den anderen erzählte, was mir zugestoßen war, und ich hielt mich daran und gab nur einen Unfall zu. Sein Schweigen, wenn er bei mir saß. Seine Bedrücktheit. Die Erregung, die ihn mitunter befiel und die ihn zwang, aufzustehen und einige Schritte zu machen. Auch Dorothea kam zu mir, auch Max und Ina kamen – sie brachte mir nur eine Traube und gab mir die Hand und ging –, doch keiner kam so oft wie der Chef, und keiner saß so lange bei mir wie er; manchmal sagte er nicht mehr als: So ist es, Bruno, und das war schon alles. Einmal, nach Feierabend, sagte er bereits beim Eintritt: Denk dir, Bruno, er hat sich gestellt, der Schüttler hat sich in Schleswig der Polizei gestellt, und dann setzte er sich und wartete auf meine Meinung, und da ihm wohl nicht ausreichte, was ich zu sagen hatte, fügte er hinzu: Er hat alles gestanden. Und dann nahm er einen Schluck aus seiner Taschenflasche und ließ auch mich trinken, und ich tat es nur, weil das Angebot von ihm kam, von
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