Lenz, Siegfried
ihm, der alles vor uns wußte.
Er wußte, daß der Schüttler einen Teil seiner Soldatenzeit bei uns verbracht hatte, damals, als dieses Land noch Exerzierplatz war, und er wußte auch, daß sie in derselben Stube lagen, der Schüttler und Guntram Glaser, und daß sie ein doppelstöckiges Bett teilten und unzertrennlich waren als Kameraden. Wie bedachtsam der Chef mir alles erzählte, nicht anders, als wollte er das Erfahrene in meine Obhut geben oder in meinem Gedächtnis verwahren, aus einem Grund, den nur er kannte. Sie waren einst unzertrennlich, sie standen füreinander ein, was dem einen zustieß, stieß auch dem andern zu, wenn jemand nachexerzieren mußte, erzählte der Chef, oder wenn jemand nur auffiel beim Appell, dann war es nie einer von ihnen, immer traf es beide zugleich – ihre Kompanie hatte sich schon daran gewöhnt.
Einmal mußten sie zu einer Nachtübung aufbrechen, es war Herbst, es regnete, sie hatten die Zeltbahnen umgehängt und glitschten nur so über das aufgeweichte Land – ich kenne diese Herbstnächte, den bedeckten Himmel, den Wind, der alles untersucht. Viel zu sehen gab es nicht, sie orientierten sich am Klappern und Knarren des Gepäcks, das sie schleppten, über den ganzen Exerzierplatz schleppten bis zur Senke, dort sammelten sie sich und standen und warteten, und zu gegebener Zeit wurde ihnen eröffnet, daß es bald einen Angriff geben würde von der Holle, von den Wiesen her, den galt es abzuwehren. Und dann wurde ihnen auch gesagt, daß sie zu einem Gegenangriff antreten müßten, sobald drei Leuchtkugeln sich über ihnen zeigten. Danach verteilten sie sich und gingen in Stellung.
Der Schüttler und Guntram Glaser blieben wie immer zusammen, sie verkrochen sich in die Kuschelfichten – dort, wo jetzt unsere sommergrünen Koniferen stehen – und dösten und schliefen ein wenig, und als der Angriff begann und ein einziges Geknatter losging, da beteiligten sie sich auch an der Schießerei, wahllos, ohne ihr Versteck zu verlassen. Beim Gegenangriff fehlten sie, einfach, weil sie die Leuchtkugeln nicht erkannten, die der Wind flach wegdrückte, sie blieben in ihrem Versteck, bis die Nachtübung vorbei war.
Aufgestöbert hat sie ihr Feldwebel, der nicht viel sagte, der niemals viel sagte; er befahl ihnen, umzufallen und vor ihm herzurobben, und sie robbten mit ihrem Gepäck bis zu unserem feuchten Land, und dort ließ er sie den Gegenangriff nachholen, indem er sie ein paarmal durch das Sumpfstück jagte, durch die Wasserlöcher, durch blubbernden Modder, und dabei wollte er ihr Angriffsgeschrei hören. Als dem Schüttler ein Stiefel weggezogen wurde, da ließ er sie im Modder nach ihm suchen, und sie stocherten und bohrten, ohne den Stiefel zu finden, und weil sich ein Soldat mit solch einem Verlust nicht abfinden darf, mußten sie die Suche am Tag darauf fortsetzen, an einem Sonntag.
Der Feldwebel war nicht gut auf sie zu sprechen, weil sie zu oft auffielen und ihm selbst angeblich nur Schande bereiteten, er brauchte ihnen nur zu begegnen, dann hatte er schon etwas auszusetzen an ihnen, und um abwechslungsreiche Strafen gegen sie auszusprechen, brauchte er nicht lange nachzudenken. Und Guntram Glaser und der Schüttler, die beschwerten sich nicht, die führten aus, was er ihnen befahl, sie waren sehr jung, mitunter ließen sie ihn wohl spüren, daß er sie nicht kleinkriegen würde, und das bewirkte, daß der Feldwebel keine Gelegenheit ausließ, um ihnen beizubringen, wie weit seine Macht reichte.
Die Holle, er ließ sie die Hochwasser führende Holle durchqueren, sie und die andern Soldaten seines Zugs; weil ein Feind die Holzbohlenbrücke besetzt hielt, gab es nur eine Möglichkeit, ans andere Ufer zu kommen, also mußten sie ins Wasser mit ihren Waffen, einer nach dem andern, auch der Kleine mußte es, dieser Schwächling, den sie Bäcker nannten wegen seiner teigigen Haut und seiner Blässe, es half ihm nicht, daß er dem Feldwebel über Stiche klagte und erklärte, daß er Nichtschwimmer sei – auf einen Wink watete auch er in die Holle, das Gewehr überm Kopf. Der Nebel verschluckte die Geräusche, das Saugen, das Glucksen und Planschen, ein Feind auf der andern Seite hätte sie kaum bemerkt, drehend, mit tastenden, nach Grund suchenden Schritten bewegten sie sich gegen die Strömung, zu einem abgeflachten Uferstück. Aber den Schrei, den konnte wohl auch der Nebel nicht verschlucken, den Notschrei, den Verzweiflungsschrei, einer stieß ihn aus, als der Bäcker,
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