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Lenz, Siegfried

Lenz, Siegfried

Titel: Lenz, Siegfried Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Exerzierplatz
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der alten Hollenhusener Kirche, die Dämmerung, die Kühle und Stille, ich las das Gleichnis, las es wieder und wieder, ohne dahinterzukommen, wo die Sünde sich verborgen hielt; um mich zu entspannen, bin ich ein bißchen herumgegangen, an den dicken, von Salpeterblumen bedeckten Mauern entlang, ich stand unter einem Rundfenster und linste ins Abendlicht, beklopfte die Pfeiler, zählte die Gesangbücher, die geschichtet auf einem wackligen Tisch lagen. Als ich vor der schweren Tür stand, hab ich versuchsweise den Drücker in die Hand genommen, und da zeigte es sich, daß die Tür verschlossen war, ich konnte sie nicht öffnen, soviel ich auch ruckte und zog, da hab ich einen ganz schönen Schrecken bekommen und bin zu meiner Bank gegangen, las und lauschte. Dann reichte das Licht nicht mehr, die Buchstaben schrumpften, und ich streckte mich auf der glatten Bank aus, bereit, aufzuspringen beim mindesten Geräusch, beim ersten Schlüsselgeräusch.
    Wie lange ich dort schlief, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur, daß mich auf einmal ein Licht blendete, es schwankte hin und her vor meinen Augen, und ich hörte die Stimme des Chefs, spürte seinen Arm unter meinem Nacken und fühlte mich hochgehoben von der Bank. Da haben wir ihn ja, sagte der Chef, und Pastor Plumbeck aus dem Hintergrund sagte: Daß mir das passieren konnte, und an der Kirchentür legte er mir die Hand auf wie bei der Einsegnung und sagte: Wie konnte ich dich nur vergessen. Es war dunkel draußen, der Chef knurrte nur zum Abschied; wir nahmen den Pappelweg zum Kollerhof, und ich konnte ihm kaum folgen, soweit schritt er aus, auf dem ganzen Weg hat er nur ein einziges Wort gesprochen, nicht zu mir hin, sondern mehr für sich, das Wort »Pennbruder«.

Vom Feierabend wird hier keiner überrascht; schon eine halbe Stunde, bevor Ewaldsen das hängende Eisen bearbeitet, hören sie mit der richtigen Arbeit auf, rauchen erst einmal und ruhen sich aus, und dann machen sie sich daran, die Geräte zu säubern, sie kratzen und polken und wischen, alles zögernd und planlos, so daß man von weitem nicht entscheiden kann, ob sie bereits bei der endgültigen Reinigung sind oder da eben nur mal etwas vom Dreck befreien wollen, damit es besser vorangeht. Kommt der Feierabend näher, dann verbergen sie ihre Vorbereitungen immer weniger, sie putzen und reiben hastig, streben zu den Wasserhähnen hin, um ihre Gummistiefel zu waschen, einige tauschen schon das Arbeitszeug gegen die Kleidung, in der sie nach Hause gehen werden.
    Ihre Aktentaschen liegen griffbereit oder baumeln an den Geräten, es wird nur noch wenig geredet, oft nach der Uhr gesehen, und wie immer wundern sie sich, daß die letzten fünf Minuten sich so ziehen. Endlich beginnt das Eisen zu singen, und jetzt eilen sie auch aus den Kulturen auf den Hauptweg zu, drängen schon zum Tor hinab, während Ewaldsen doch erst Feierabend schlägt, und vor dem Geräteschuppen entsteht ein Stau, weil Meißelpflug und Grabepflug, weil Säe- und Sandstreumaschinen und Rode- und Balliermaschinen eingefahren werden sollen, alles, was dem Chef gehört.
    Früher, als wir nur ganz wenige hier waren, da wurde überhaupt kein Feierabend geschlagen, da hat der Chef einfach gesagt: die fünfhundert müssen noch gestäbt oder umgetopft werden, und dann blieben wir dabei, bis alles fertig war, und wir beide waren die letzten, die gingen. Er selbst machte immer erst Schluß, wenn er nicht mehr konnte, wenn er krumm wurde und ihm nichts mehr nach seinem Willen geriet; noch habe ich keinen gesehen, der so müde sein konnte wie er, und der in seiner Müdigkeit nicht verdrossen oder schweigsam war, sondern zufrieden und erzählbereit.
    Am liebsten war ich mit einem müden Chef zusammen, er sah dann immer so aus, als hätte er irgendjemandem ein kleines Schnippchen geschlagen, er war heiter in seiner Erschöpfung und hatte für fast alles Verständnis; dennoch entging ihm nichts, so müde er auch war. Schleppte Ewaldsen ihm nach Feierabend Hollenhusener an, die bei uns Arbeit suchten, dann forderte der Chef sie nur auf, drei junge Koniferen zu setzen und drei zu verpflanzen, er saß mit seiner Müdigkeit auf einer umgedrehten Schubkarre und sah unter halbgeschlossenen Lidern zu, manchmal glaubte ich, er sei eingeschlafen, aber zum Schluß entschied er, wie ich auch entschieden hätte: Sie nicht, aber Sie und Sie. Wenn der Chef es Ewaldsen überließ, neue Leute einzustellen, dann fragte der immer zuerst nach dem Alter und achtete

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