Lenz, Siegfried
darauf, wieviel einer heben, tragen, überhaupt zwingen konnte; lud sich einer drei Kisten auf anstelle von zweien, dann konnte das schon den Ausschlag geben.
Wie sich gleich alles verändert nach Feierabend, wenn die Kulturen sich selbst überlassen sind und sich niemand mehr zwischen ihnen bewegt; ich hab schon oft denken müssen, daß die Pflanzen sich dann ein bißchen recken und Umschau halten und Signale austauschen, Signale der Erleichterung; das hat Bruno schon oft denken müssen. Unter der Erde, da schieben sie sowieso ihre Wurzeln herum, bis sie sich berühren und verklammern, vielleicht sogar austauschen können.
Aber ich muß das Loch in der Tasche zunähen, es kommt bestimmt vom Messer, das Metall drückt in den Stoff, es reibt ihn und drückt, und auf einmal, wenn ich etwas aus der Tasche nehmen will, dann ist dort ein Loch und sonst nichts. Die Blechschachtel mit dem Nähzeug muß unterm Kopfkissen sein, die goldgelbe Schachtel, die Tim und Tobias mir einmal brachten, die kleinen Quälgeister, die es in ihrem Übermut immer auf mich abgesehen haben; bestimmt hatte Ina ihnen befohlen, mir die Schachtel mit den Schokoladenherzen zu bringen. An dem Abend, an dem ich sie aufaß, war ich darauf gefaßt, daß sie eines der Schokoladenherzen mit Senf oder Pfeffer gefüllt hatten, doch ich brauchte keines auszuspucken, alle waren gut.
Hat es geklopft? Wer will was von mir, jetzt, wer ist über den Nebenweg herangekommen, das kann doch nicht sein, aber er ist es, er steht dort vor meiner Tür, dunkel gekleidet, seinen Hut in der Hand: der feierliche Hase, den Max und Joachim vom Zug abgeholt haben, der Vormund oder der Arzt, nun klopft er schon wieder, schüchtern nur, nicht wie Magda, die entweder mit der Faust klopft oder mit der flachen Hand. Wer nicht da ist, braucht nicht aufzumachen, doch eben nach Feierabend muß ich wohl zu Hause sein, vielleicht haben sie mich von der Festung aus gesehen, vielleicht hat er auch schon meine Schritte gehört; wenn ich nur wüßte, was er von mir will. Der Sessel muß frei sein, weg mit dem alten Hemd, einfach hinter den Vorhang, und die Gummistiefel und das Handtuch und den Teller, einfach hinter den Vorhang; nun kann er hereinkommen. Ja? Wer ist da?
Herr Messmer? fragt er. Woher weiß der meinen Namen, er, dem ich noch nie begegnet bin, so hat mich noch nie einer angeredet: Herr Messmer; das ist bestimmt ein schlechtes Zeichen, aber nun muß ich aufmachen. Sein süßsaures Lächeln, wie auf dem Bahnsteig, seine großen Nagezähne und dieser leidvolle Ausdruck in seinen Augen, geradeso, als ob ihn etwas bedrückt. Entschuldigen Sie, wenn ich Sie bei Ihrem wohlverdienten Feierabend störe, sagt er, aber ich bin beauftragt worden, mit Ihnen zu sprechen. Darf ich für einen Augenblick hereinkommen? Beauftragt? Von wem beauftragt? Das werde ich ihn gleich mal fragen, wenn er sitzt, werde ich ihn das fragen. Kommen Sie.
Wie schnell der sich umsieht, wie rasch der Kummer aus seinen Augen geht und von Wißbegier ersetzt wird, im Nu hat er alles zur Kenntnis genommen und in seinem Kopf notiert, auf die kaputte Uhr im Marmorgehäuse deutend, sagt er: Ein schönes Stück. Und jetzt sagt er: Nett haben Sie es hier, und sagt in gleichem Ton: Mein Name ist Murwitz, und nimmt sich den alten Sessel, den der Chef mir geschenkt hat vor langer Zeit. Ich muß mich auf den Hocker setzen und ihm das Wort lassen, ihm, der mich angeredet hat wie noch keiner in Hollenhusen. Das Licht blendet ihn wohl, er rückt ein bißchen zur Seite und sieht mich freundlich an und sagt schon, was ich ihn fragen wollte: also er ist Herr Murwitz aus Schleswig und vertritt die Interessen der Familie Zeller.
Was will er damit sagen? Welche Interessen meint er eigentlich, ich verstehe ihn nicht, ich weiß nur, daß ich jetzt aufpassen muß, auch wenn er mir aufmunternd zunickt und die Truhe lobt, die Dorothea mir geschenkt hat. Ob es zutrifft, fragt er leise, daß ich schon mehr als zwanzig Jahre bei der Familie Zeller bin, und ich sage: Es sind einunddreißig Jahre, ich war von Anfang an dabei. Mein Gott, sagt er, einunddreißig Jahre, da geschieht viel, da erlebt man allerhand, ob man will oder nicht. Er schließt die Augen, denkt vielleicht darüber nach, was er selbst alles in den vergangenen einunddreißig Jahren erlebt hat, und jetzt schüttelt er den Kopf, belustigt, ungläubig, als wäre es zuviel für eine kurze Erinnerung. Mir wurde erzählt, sagt er, daß zwischen Ihnen und Herrn Konrad Zeller
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