Léon und Louise: Roman (German Edition)
beugte sich über den Lenker, versuchte zu beschleunigen und schaute schon nach wenigen hundert Metern besorgt nach hinten, ob sie wieder am Horizont auftauche; bald aber richtete er sich auf und zwang sich, langsamer zu fahren. Schließlich war es sehr unwahrscheinlich, dass die rasante Person binnen weniger Minuten ein drittes Mal über dieselbe Straße fahren würde. Und falls doch, würde er das Rennen – das für sie ja noch nicht mal eines war – sowieso verlieren. Er hielt an und legte sein Rad in den Kies, sprang über den Straßengraben und streckte sich lang im Gras aus. Nun konnte sie ruhig kommen. Er würde im Gras liegen und an einem Grashalm kauen wie einer, der gerade Lust auf eine kleine Rast hatte, und er würde mit dem Zeigefinger an den Mützenrand tippen und laut und deutlich »Bonjour!« rufen.
Léon aß das letzte der drei Käsebrote, die Tante Sophie ihm mitgegeben hatte. Er zog die Schuhe aus und rieb seine brennenden Füße, und ab und zu schielte er nach links über die einsame Straße. Ein Windstoß brachte etwas Nieselregen, der aber rasch wieder aufhörte. Ein nachtblauer Lastwagen fuhr vorbei, an dessen Seitenwänden in goldener Schrift »L’Espoir« stand, etwas später trottete ein schwarzweißer Hund querfeldein. Plötzlich wurde ihm klar, wie sehr er sich gerade zum Affen machte mit seinem Grashalm und der ostentativen Entspanntheit; selbstverständlich würde das Mädchen, falls es nochmal vorbeikäme, die Komödie auf den ersten Blick durchschauen. Er spuckte den Grashalm aus und zog seine Schuhe wieder an, sprang über den Wassergraben zurück auf die Straße und stieg aufs Rad.
3. KAPITEL
Der Bahnhof von Saint-Luc-sur-Marne lag einen halben Kilometer vor der Stadt zwischen Weizenfeldern und Kartoffeläckern an einer Nebenlinie der Chemins de Fer du Nord . Das Stationsgebäude bestand aus rotem Backstein, der Güterschuppen aus verwittertem Fichtenholz. Léon bekam eine schwarze Uniform, die Sergeantenstreifen an den Ärmeln hatte und ihm erstaunlicherweise wie angegossen saß. Er war der einzige Untergebene seines einzigen Vorgesetzten, des Bahnhofsvorstehers Antoine Barthélemy. Dieser war ein hageres, friedfertiges Männchen mit Tabakpfeife und einem Schnurrbart à la Vercingetorix, das wortkarg und gewissenhaft seinen Dienst tat. Tag für Tag brachte er viele Stunden damit zu, im Dienstbüro kleine geometrische Muster auf seinen Schreibblock zu zeichnen in geduldiger Erwartung des Augenblicks, da er in seine Dienstwohnung im Obergeschoss über der Schalterhalle zurückkehren durfte. Dort erwartete ihn seit vielen Jahrzehnten rund um die Uhr sehnsüchtig seine Frau Josianne, die rosige Wangen und runde Hüften hatte, leicht in herzhaftes Lachen ausbrach und eine ausgezeichnete Köchin war.
Gerade viel zu tun gab es nicht am Bahnhof von Saint-Luc-sur-Marne. Am Morgen wie am Nachmittag hielten fahrplanmäßig je drei Regionalzüge in beide Richtungen; die Schnellzüge fuhren mit großer Geschwindigkeit vorüber und zogen einen Fahrtwind hinter sich her, dass einem auf dem Bahnsteig die Atemluft wegblieb. Nachts um zwei Uhr siebenundzwanzig fuhr der Nachtzug Calais-Paris vorbei mit seinen dunklen Schlafwagen, in denen ab und zu ein Fenster erleuchtet war, weil ein reicher Reisender in seinem weichen Bett nicht in den Schlaf fand.
Zu Léon Le Galls eigener Überraschung war er seiner Aufgabe als Morseassistent vom ersten Tag an einigermaßen gewachsen. Sein Dienst begann morgens um acht und endete abends um acht, mit einer Stunde Pause am Mittag. Sonntags hatte er frei. Es gehörte zu seinen Pflichten, bei der Einfahrt eines Zuges auf den Bahnsteig hinauszutreten und dem Lokführer mit einer kleinen roten Fahne zu winken. Morgens musste er den Postsack und den Sack mit den Pariser Zeitungen gegen die leeren Säcke vom Vortag tauschen. Wenn ein Bauer eine Kiste Lauch oder Frühlingszwiebeln als Stückgut zum Spedieren aufgab, musste er die Ware wiegen und einen Frachtbrief ausstellen. Und wenn das Morsegerät tickte, musste er den Papierstreifen abreißen und die Nachricht auf ein Telegrammformular übertragen. Es waren stets dienstliche Mitteilungen, das Morsegerät diente ausschließlich der Bahn.
Natürlich hatte Léon dreist gelogen, als er behauptet hatte, er könne morsen, und den Praxistest auf dem Schreibtisch hatte er nur deswegen bestanden, weil der Bürgermeister von der Materie noch weniger Ahnung hatte als er selbst. Glücklicherweise aber war der Bahnhof
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