Léon und Louise: Roman (German Edition)
gerechterweise sein müsste.
Die Bohème von Saint-Luc bestand aus zwei schriftstellernden Lehrern, die sich einander künstlerisch weit überlegen glaubten, dann dem chronisch schwermütigen Kirchenorganisten und einer aquarellierenden Jungfer sowie dem lispelnden Grabsteinmetz und ein paar alteingesessenen Trinkern, Quatschköpfen und Pensionisten. Alle saßen sie Abend für Abend trotzig fröhlich beisammen an ihrem Stammtisch nahe beim runden Kohleofen, dessen Rohr quer durch den Saal führte und zur Küche hin in der Wand verschwand, tranken Pernod und dünsteten Knoblauch aus, während in knapp hundert Kilometern Entfernung komplette Jahrgänge junger Männer erschossen, vergast und durch den Fleischwolf gedreht wurden.
Gerechterweise muss man sagen, dass es nicht die Schuld der Quatschköpfe war, dass es ihnen so gut ging. Das Geld lag nun mal auf der Straße, seit der Staat seine Soldaten und deren Familien mit großzügigen Renten, Stipendien und Pensionen bei Laune hielt; zwar konnte man mit dem Geld nicht immer alles kaufen, worauf man gerade Lust hatte, aber Brot und Speck und Käse gab es reichlich. Im Commerce war der Wein vielleicht manchmal ein wenig mit Wasser verdünnt, dafür war er billig, nicht allzu sauer und verursachte keine Kopfschmerzen.
Natürlich hatte unter den Stammgästen die Nachricht längst die Runde gemacht, dass der alte Barthélemy am Bahnhof fürs Nichtstun einen neuen Assistenten bekommen hatte, weshalb Léon, als er in seiner Eisenbahneruniform zum ersten Mal durch die gläserne Eingangstür trat, sich ihnen gar nicht mehr vorstellen musste. »Zu Ihren Diensten, mein General!«, hatte der dienstälteste Quatschkopf gerufen und im Sitzen salutiert, und einer der Lehrer hatte sich zu ihm an den Tresen gestellt, um ihn namens der Einwohnerschaft eingehend zu seinem Vorleben, seinen aktuellen Lebensumständen und seinen Zukunftsplänen zu befragen. Befriedigt nahmen die Stammgäste im Lauf der folgenden Abende zur Kenntnis, dass Léon keine großen Reden schwang und keine Keilereien anzettelte, sondern still am Tresen ein oder zwei Gläser Bordeaux trank und nach einer halben Stunde höflich das Feld räumte, wie es sich für einen Jungen seines Alters gehörte.
Léon war jeden Abend im Commerce . Manchmal sprach er mit dem Wirt ein paar Worte, manchmal auch mit dessen Tochter, die montags, mittwochs und freitags hinter dem Tresen stand und ein großgewachsenes, ernstes Mädchen war, das immer ein wenig abwesend schien, aber selbst bei den größten Saufgelagen jederzeit die Übersicht behielt über die Trinkschulden jedes einzelnen Gasts. Léon wusste, dass sie ihm gelegentlich aus den Augenwinkeln prüfende Blicke zuwarf, und er versuchte vor ihr zu verheimlichen, dass er seinerseits die Eingangstür im Auge behielt.
Denn natürlich war er nicht nur wegen des Rotweins da, sondern hauptsächlich in der Hoffnung, dass irgendwann das Mädchen mit der rotweiß gepunkteten Bluse auftauchen würde. Sie hatte kein Gepäck auf dem Fahrrad gehabt, also musste sie in der Gegend leben; wenn nicht in Saint-Luc selbst, so doch in einem der umliegenden Weiler. Der Ort war klein, schon nach wenigen Tagen war ihm kaum ein Gesicht mehr unbekannt; er kannte den Pfarrer und die drei Polizisten und den Gemeindediener und sämtliche Gassenjungen und das Blumenmädchen. Die schöne Radfahrerin aber fand er nicht mehr, weder in der Bäckerei noch im Postamt, noch auf der Straße oder in der Sonntagsmesse, weder auf dem Friedhof noch in der Wäscherei oder im Blumenladen, nicht auf den Sitzbänken auf der Place de la République und nicht unter den Platanen, die den Kanal säumten, und auch nicht am Eingangstor zur Ziegelbrennerei auf der anderen Seite des Bahngleises. Einmal war er einer Radfahrerin hinterhergerannt, bis sie abstieg und sich als die Ehefrau des Bäckers in der Rue des Moines entpuppte, und einmal hatte er ein regelmäßiges Quietschen gehört, dessen Herkunft aber nicht orten können, bevor es leiser wurde und verstummte.
Oft war Léon nahe daran, den Wirt des Commerce oder dessen Tochter nach einem Mädchen mit rotweiß gepunkteter Bluse zu fragen; er tat es aber nicht, weil er wusste, dass es in kleinen Orten zu nichts Gutem führt, wenn ein fremder Mann sich nach einem einheimischen Mädchen erkundigt.
Eines Abends aber, als Léon gerade bezahlt hatte, ging schwungvoll die Tür auf, und herein kam leichten, schnellen Schrittes das Mädchen mit der rotweiß gepunkteten Bluse,
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