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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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einem alten, ziemlich rostigen Herrenfahrrad, die locker aufrecht auf dem Sattel saß und rasch näher kam; das Quietschen wurde offenbar durch das rechte Pedal verursacht, das bei jeder Umdrehung das Blech des Kettenschutzes streifte. Sie kam sehr rasch näher, gleich würde sie ihn überholen; um das zu verhindern, stieg er aus dem Sattel. Aber nach wenigen Sekunden war sie heran, winkte ihm zu, rief »Bonjour!« und zog leichthin vorbei, als würde er am Straßenrand stillstehen.
    Léon schaute ihr hinterher, wie sie in der weiten Ebene unter leiser werdendem Quietschen klein und immer kleiner wurde und schließlich an jenem Punkt verschwand, an dem die Doppelreihe der Platanen an den Horizont stieß. Ein sonderbares Mädchen war das gewesen. Sommersprossen und dichtes dunkles Haar, das sie, womöglich eigenhändig, am Hinterkopf von einem Ohrläppchen zum anderen durchgehend auf gleicher Höhe abgesäbelt hatte. Ungefähr in seinem Alter, vielleicht etwas jünger oder älter, das war schwer zu sagen. Großer Mund und zartes Kinn. Ein nettes Lächeln. Kleine weiße Zähne und eine lustige Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen. Die Augen – grün? Eine weiße Bluse mit roten Punkten, die sie zehn Jahre älter gemacht hätte, wenn nicht der blaue Schülerinnenrock sie wieder zehn Jahre jünger gemacht hätte. Hübsche Beine, soweit er das in der Kürze der Zeit hatte beurteilen können. Und verdammt schnell gefahren war sie.
    Léon fühlte seine Müdigkeit nicht mehr, die Beine taten wieder ihren Dienst. Ein sensationelles Mädchen war das gewesen. Er versuchte sich ihr Bild vor Augen zu halten und wunderte sich, dass es ihm schon nicht mehr gelingen wollte. Wohl sah er die rotweiß gepunktete Bluse, die strampelnden Beine, die ausgetretenen Schnürschuhe und das Lächeln, das übrigens nicht nur nett, sondern hinreißend, umwerfend, beglückend, atemberaubend, herzzerreißend gewesen war in seiner Mischung aus Freundlichkeit, Klugheit, Spott und Scheu. Aber die einzelnen Teile wollten sich, sosehr er sich bemühte, nicht zu einem Ganzen fügen, immer sah er nur Glieder, Farben, Formen – die Erscheinung als Ganzes verweigerte sich ihm.
    Deutlich im Ohr hatte er immerhin das Quietschen der Pedale auf dem Kettenschutz, ebenso ihr helles »Bonjour!« – da fiel ihm ein, dass er nicht zurückgegrüßt hatte. Verärgert schlug er mit der rechten Hand auf die Lenkstange, dass das Rad einen Schlenker machte und er beinahe gestürzt wäre. »Bonjour, Mademoiselle!«, sagte er leise, als ob er üben würde, dann kräftiger, entschiedener: »Bonjour!«, und dann noch eine Nuance männlicher, selbstbewusster: »Bonjour!«
    Léon erneuerte seinen vor der Abreise gefassten Vorsatz, in Saint-Luc ein neues Leben zu beginnen. Er würde ab sofort seinen Kaffee nicht mehr zu Hause, sondern im Bistro trinken und immer fünfzehn Prozent Trinkgeld auf den Tresen legen, und er würde nicht mehr den Petit Inventeur lesen, sondern den Figaro und den Parisien, und er würde auf dem Trottoir nicht mehr rennen, sondern schlendern. Und wenn eine junge Frau ihn grüßte, würde er nicht mit offenem Mund gaffen, sondern ihr einen kurzen, scharfen Blick zuwerfen und dann lässig zurückgrüßen.
    Bleischwer war die Müdigkeit in seine Beine zurückgekehrt. Jetzt verwünschte er die uferlose Ebene. Die Hügellandschaft vorhin hatte immerhin ein Wechselspiel von Hoffnung und Enttäuschung geboten, jetzt gab es nur mehr illusionslose Klarheit, dass das Ziel noch fern war. Um die Weite nicht mehr sehen zu müssen, legte er seine Unterarme auf die Lenkstange und ließ den Kopf zwischen die Schultern fallen, beobachtete das Auf und Ab seiner Füße und behielt, damit er nicht vom Weg abkam, den Straßengraben im Auge.
    So bemerkte er nicht, dass weit vor ihm die Wolkendecke aufriss und ein Bündel schräger Sonnenstrahlen auf die grünen Weizenfelder fiel und dass am Horizont zwischen den Platanen ein Punkt auftauchte, der rasch größer wurde und eine rotweiß gepunktete Bluse trug. Léon bemerkte auch nicht, dass die junge Frau diesmal freihändig fuhr, und als er das vertraute Quietschen hörte, war sie schon heran, zeigte ihm ihre Zähne mit der hübschen Lücke in der Mitte, winkte ihm zu und fuhr vorbei.
    »Bonjour!«, rief Léon und ärgerte sich, dass er aufs Neue zu spät gekommen war. Fehlte nur noch, dass sie ihn, da sie nun wieder in seinem Rücken war, ein zweites Mal überholte; diese Demütigung wollte er sich ersparen. Er

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