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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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und die Holzwände des Güterschuppens knarrten, ächzten und knirschten, dass es einem unheimlich werden konnte. Sie quarrten tagsüber, wenn die Sonne sie erwärmte, und sie girrten abends, wenn sie sich wieder abkühlten; sie knackten im Morgengrauen, wenn die Kälte der Nacht am größten war, und sie knarzten bei Sonnenaufgang, wenn sie sich wieder erwärmten. Mal klang es, als würde jemand die Treppe hinauf zu Léons Zimmer steigen, dann wieder, als schleiche einer durch den Dachstock oder als kratze jemand nebenan mit einem Schraubenzieher über die Wand. Léon wusste wohl, dass da niemand war, musste aber trotzdem immer horchen und fand nie vor Mitternacht in den Schlaf.
    So gewöhnte er sich an, nach dem Abendessen mit dem Fahrrad ausgedehnte Streifzüge durchs Umland zu unternehmen und erst lang nach Einbruch der Nacht, wenn er richtig müde war, heimzukehren. Weil aber das Meer weit weg war und es in weitem Umkreis nichts anderes zu sehen gab als Weizen- und Kartoffelfelder, zwischen denen undurchdringliche Haselhecken und brackige kleine Entwässerungskanäle verliefen, wurden seine Ausfahrten immer kürzer und endeten immer rascher im Städtchen.
    In jenem Frühsommer 1918 bestand Saint-Luc-sur-Marne aus etwa hundert Häusern, die in konzentrischen Kreisen um die Place de la République angeordnet waren. Im innersten Kreis standen ein pompöses klassizistisches Rathaus, eine im selben Stil erbaute Grundschule sowie ein paar Bürgerhäuser. Außerdem gab es eine Markthalle, die Brasserie des Artistes und das Café du Commerce sowie eine romanische Kirche, an deren hinterem Ende der Bürgermeister gegen den erbitterten Widerstand des Pfarrers mit republikanischer Boshaftigkeit ein Urinal hatte anbauen lassen. Im mittleren Kreis gab es das Postamt und zwei Bäckereien, einen Friseur und einen Spezereiladen, zudem eine Metzgerei sowie einen Eisenwarenladen und eine Kleiderboutique namens Aux Galeries Place Vendôme , in der die Bürgerinnen des Städtchens und die Bäuerinnen des Umlands einkauften, was sie für Pariser Chic hielten. Im äußersten Kreis fanden sich zwischen einfachen Wohnhäusern die Schmiede und die Tischlerei sowie der Verkaufsladen der landwirtschaftlichen Genossenschaft, weiter die Sattlerei und das Kriegerdenkmal für die Gefallenen von 1870 und schließlich das Bestattungsinstitut sowie eine mechanische Werkstatt und das Feuerwehrlokal.
    Im ersten Jahr war die Front für ein paar Wochen ungemütlich nahe gerückt und im dritten Jahr nochmal, und beinahe in Sichtweite gab es Trümmerfelder zu besichtigen, die früher blühende Dörfer gewesen waren; Saint-Luc selbst aber war verschont geblieben von den Schrecken des Krieges. Das Schlimmste, was das Städtchen zu erdulden gehabt hatte, war die Requisition des Feuerlöschwagens durch einen vorbeiziehenden Truppenkommandanten sowie der gelegentliche Einfall von Soldatenhorden auf Fronturlaub, die wild entschlossen waren, ihren Sold in einer Nacht zu verprassen. Ansonsten hatte man sich in Saint-Luc an den eigenartigen Umstand gewöhnt, dass der Krieg nur dort wütete, wo er tatsächlich stattfand, während gleich um die Ecke die Butterblumen blühten, die Marktfrauen ihre Waren feilboten und die Mütter ihren Töchtern bunte Bänder ins Haar flochten.
    Als Neuankömmling hatte Léon geglaubt, das Café du Commerce sei das Stammlokal der Gewerbetreibenden, die Brasserie des Artistes hingegen Treffpunkt der lokalen Künstler und Intellektuellen; aber natürlich war es umgekehrt. Denn wie überall auf der Welt litten auch in Saint-Luc die erfolgreichsten Rechtsanwälte, Händler und Handwerker abends, wenn sie ihre Tageseinnahmen gezählt und sicher im Geldschrank versperrt hatten, auf moderate Weise unter einem gewissen Mangel an Witz und Schönheit in ihrem Leben, weshalb sie ihre spärliche Freizeit gern in der Brasserie des Artistes verbrachten, die sie für den Künstlertreffpunkt hielten, weil an den Wänden nikotingelbe Kunstdrucke von Henri de Toulouse-Lautrec hingen. Aber wie überall auf der Welt gab es im vermeintlichen Künstlertreff längst keine Künstler mehr, weil diese vor den allzu Lebenstüchtigen quer über den Platz ins Café du Commerce geflohen waren. Dort saß nun nach dieser Rochade die lokale Bohème Abend für Abend in sicherer Entfernung zur Bourgeoisie, langweilte sich genauso wie diese und litt an der unleugbaren Tatsache, dass auch das Künstlerleben bei Weitem nicht so lustig und abwechslungsreich ist, wie es

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