Léon und Louise: Roman (German Edition)
von Saint-Luc ein abgeschiedener Ort, an dem höchstens vier oder fünf Telegramme täglich eintrafen; so hatte Léon alle Zeit der Welt, diese mithilfe des Petit Inventeur , den er vorsorglich eingesteckt hatte, zu entziffern.
Etwas umständlicher war’s, wenn er selbst eine Nachricht verschicken musste, was etwa jeden zweiten Tag vorkam. Dann schloss er sich, bevor er ans Morsegerät ging, mit Papier und Bleistift auf der Toilette ein und übertrug die lateinischen Buchstaben in Punkte und Striche. Das ging gut, solange die Telegramme aus nur wenigen Wörtern bestanden. Am Montag der dritten Woche aber drückte ihm der Chef den Monatsrapport in die Hand und beauftragte ihn, diesen vollumfänglich und wortgetreu an die Kreisdirektion nach Reims zu übermitteln.
»Per Post?«, fragte Léon und blätterte den Rapport durch, der aus vier ziemlich eng beschriebenen Seiten bestand.
»Telegrafisch«, sagte der Chef. »Ist Vorschrift.«
»Wieso?«
»Keine Ahnung. Ist einfach Vorschrift. War schon immer so.«
Léon nickte und überlegte, was zu tun sei. Als der Chef wie gewohnt pünktlich um halb zehn zum Kaffeetrinken hinauf zu seiner Josianne stieg, griff er zum Telefon, ließ sich mit der Kreisdirektion in Reims verbinden und begann den Rapport zu diktieren, als wäre das seit Jahrzehnten so und nicht anders guter Brauch. Und als die Telefonistin sich über die ungewohnte Mehrarbeit beschwerte, erklärte er ihr, letzte Nacht habe der Blitz eingeschlagen und das Morsegerät außer Funktion gesetzt.
Léons Zimmer lag weitab von der Wohnung des Bahnhofsvorstehers im Obergeschoss des Güterschuppens. Er hatte ein eigenes Bett und einen Tisch samt Stuhl sowie einen Waschtisch mit Spiegel und ein Fenster mit Blick auf das Gleis. Hier war er ungestört und konnte tun und lassen, was er wollte. Meist tat er nicht viel, sondern lag nur auf dem Bett mit am Hinterkopf verschränkten Händen und betrachtete die Maserung des Gebälks.
Mittags und abends brachte ihm die Frau des Bahnhofsvorstehers, die er Madame Josianne nennen durfte, sein Essen; dabei überschüttete sie ihn mit mütterlicher Fürsorge und verbalen Zärtlichkeiten, nannte ihn Liebling, Engel, Pferdchen und Goldstück, erkundigte sich nach der Qualität seiner Verdauung, seines Schlafs und seines seelischen Befindens und bot sich an, ihm die Haare zu schneiden, Wollsocken zu stricken, die Beichte abzunehmen und die Wäsche zu waschen.
Ansonsten behelligte ihn niemand, das genoss er sehr. Wenn ein Zug vorbeifuhr, trat er ans Fenster, zählte die Personen-, Güter- und Viehwagen und versuchte zu erraten, was sie transportierten. Einmal nahm er eine Zeitung mit aufs Zimmer, die ein Reisender auf der Wartebank liegen gelassen hatte, aber nach wenigen Minuten war er der Meldungen über Clemenceaus Kabinettsbildung, die Butter-Rationierung, Truppenverschiebungen am Chemin des Dames und Goldabgaben an die Banque de France müde; auch für die nationale Kriegswirtschaft brachte er nun, da der Strand von Cherbourg so weit weg war, kein rechtes Interesse mehr auf. Und allmählich gestand er sich ein, dass ihn auf dieser Welt genau genommen nur eines interessierte – das war das Mädchen mit der rotweiß gepunkteten Bluse.
Obwohl er sie seit dem Tag seiner Ankunft nicht mehr gesehen hatte, musste er immerzu, ob er wollte oder nicht, an sie denken. Wie sie wohl heißen mochte – Jeanne? Marianne? Dominique? Virginie? Françoise? Sophie? Jeden Namen sprach er zur Probe leise aus und schrieb ihn mit dem Finger auf die geblümte Tapete neben seinem Bett.
Léon fühlte sich wohl in seinem neuen Zuhause, sein altes Leben fehlte ihm nicht. Weshalb hätte er Heimweh haben sollen? Wenn er wollte, konnte er jederzeit auf sein Rad steigen und nach Cherbourg zurückkehren. Seine Eltern würden ihn bis ans Ende ihrer Tage mit offenen Armen empfangen in ihrem ewig gleichen Häuschen an der Rue des Fossées, und der Strand von Cherbourg würde am Tag seiner Heimkehr genau gleich daliegen, wie er ihn verlassen hatte, und er würde mit Joël und Patrice auf der Segeljolle ausfahren, als sei inzwischen keine Zeit vergangen, und schon nach drei Tagen würde jedermann in Cherbourg vergessen haben, dass er überhaupt weggegangen war. Zu überstürzter Heimkehr bestand also, auch wenn er sich zuweilen einsam fühlte, kein Anlass. Fürs Erste konnte er genauso gut in Saint-Luc bleiben und sein neues, selbstbestimmtes Leben erproben.
Unangenehm an seinem Zimmer war nur, dass das Gebälk
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