Léon und Louise: Roman (German Edition)
Und hernach einen Cognac. Und dann noch einen. Und zum Abschluss ein Bier.
Die Nachricht vom Abzug der Wehrmacht erreichte die Familie Le Gall nachmittags um Viertel nach drei unter ihrem selbstgebauten Sonnendach. Von Norden her kam eine Horde junger Leute über den Strand; manche fuhren auf Fahrrädern und manche rannten daneben her, zwei Burschen auf einem Tandem zogen einen Anhänger, in dem drei Mädchen saßen. Die jungen Leute johlten und winkten. Michel lief ihnen entgegen und sprach mit ihnen, dann kehrte er unters Sonnendach zurück und umarmte den Vater und seine Geschwister. Der kleine Philippe und Muriel drängten auf sofortige Heimkehr nach Paris zu Madame Rossetos und ihrem Eierlikör, Yves hingegen wollte auf unbestimmte Zeit in Lacanau bleiben, weil er im Hof des Hotels eine Kaninchenzucht begonnen hatte. Léon und Michel erörterten die Möglichkeit einer vorzeitigen Heimkehr und kamen zum Schluss, dass es zu riskant wäre, die Rückreise vor dem 26. September ohne gültige Passierscheine anzutreten.
Währenddessen stand Yvonne abseits, schaute hinaus auf den Ozean und rieb sich die mageren Arme, als ob sie fror. »Wir werden sehen«, sagte sie. »Ich glaub’s erst, wenn de Gaulle im Radio spricht.«
»Der war doch gestern schon im Radio.«
»Aus Paris will ich ihn hören, und im Hintergrund müssen zum Beweis die Glocken von Notre-Dame klingen. Wenn er schlau ist, macht er das.«
»De Gaulle ist schlau«, sagte Léon. »Wenn du diesen Beweis verlangst, wird er ihn liefern.«
»Glaubst du, dass er mich so gut kennt? Wir werden sehen.« Yvonne drehte sich um und packte ihren Mann am Arm. »Weißt du, was ich jetzt will, Léon? Ein Steak. Ein dickes, blutiges Rindssteak an Pfeffersauce mit Pommes Frites. Dazu einen Schluck Bordeaux, und zwar vom guten, und danach Ziegenkäse und Roquefort. Und zum Nachtisch eine Crème brûlée.«
Anderntags hatte General de Gaulle tatsächlich die Schlauheit, seine Radioansprache vom Geläut der Notre-Dame begleiten zu lassen; als die Glocken und der General verstummt waren, lief Yvonne in die Hotelküche und eröffnete dem Koch, dass sie sofort Wildschweinterrine zu essen wünsche, gefolgt von Forelle Blau mit Steinpilzrisotto sowie als Hauptgang Blutwurst, Pommes Dauphinoises und Rotkraut sowie zum Nachtisch eine Crèpe Suzette und, ach ja, zwischendurch irgendwann mal einen Coupe Colonel. Als dieser zu bedenken gab, dass es erstens halb vier nachmittags und deshalb zweitens die Küche geschlossen sei und dass er drittens nichts vom Gewünschten vorrätig habe mit Ausnahme der Kartoffeln, entgegnete Yvonne leichthin, dann solle er eben erstens die Uhrzeit nicht beachten, zweitens die Küche aufmachen und drittens alles Benötigte herbeischaffen. Der Preis spiele keine Rolle.
Von jenem Augenblick an interessierte Yvonne sich nur noch fürs Essen. Wenn sie frühmorgens die Augen aufschlug, griff sie nach den Haferbiscuits, die sie nun stets vorrätig hielt. Beim Frühstück trank sie kannenweise Milchkaffee und bestrich ganze Baguettes fingerdick mit Butter und Konfitüre. Die Fütterung der Kinder überließ sie, die jahrelang kein anderes Interesse gehabt hatte, nun ganz deren Vater. Und wenn sie zum Strand aufbrachen, machte sie sich keine Gedanken mehr um die Gefährlichkeit der Brandung und der Strömung, sondern ließ ihre Brut gleichgültig ziehen und machte für sich allein einen ersten Spaziergang zur Konditorei, um sich ein paar Madeleines und Apfeltaschen zu besorgen. Danach war’s schon bald Zeit für den Aperitif und die eine oder andere Vorspeise vor dem Mittagessen.
Léon schaute verwundert zu, wie seine Frau sich der Völlerei ergab und in ein Wesen verwandelte, von dem er nie gedacht hätte, dass es als Möglichkeit die ganzen zweiundzwanzig Jahre ihrer Ehe in ihr geschlummert hatte. Die amphibienhafte Gleichgültigkeit und Gefühlskälte, die Yvonne nun an den Tag legte, stand in größtem Gegensatz zu allem, was sie bisher gewesen war. Dieser schlingende, grunzende Moloch musste die ganze Zeit in der strengen Wächterin gewartet haben, die Yvonne während der Kriegsjahre gewesen war; diese Wächterin wiederum hatte zuvor in der lasziven Diva gesteckt, jene in der zerquälten Ehefrau und diese schließlich in der koketten Braut; Léon fragte sich, mit welchen Metamorphosen ihn diese Frau in Zukunft noch überraschen würde.
Da sie immer nur aß und sich kaum mehr bewegte, setzte sie sehr rasch Fett an. Ihr Gesichtsausdruck
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