Léon und Louise: Roman (German Edition)
weiß, Caron hat mir alles erzählt. Auch das wird dir helfen, aber vorerst musst du verschwinden. Die sechstausend bekommst du nicht zurück, dafür darfst du das Boot behalten. Caron sagt, er will es nicht mehr, weil es nun deins ist.«
»Ach ja?«
»Er sagt, ein Boot ist wie ein Hund, das kann nicht mehrmals den Meister wechseln.«
»Danke.«
»Hier hast du Eisenbahnfahrkarten nach Bordeaux, danach musst du selbst schauen, wie ihr weiterkommt. Und hier sind zwei Passierscheine. Der eine ist für die Deutschen, der andere für unsere Leute. Es wäre gut, wenn du die Scheine nicht verwechseln würdest.«
»Verstehe.«
»Rückfahrt nicht vor dem sechsundzwanzigsten September. Der Zug nach Bordeaux fährt morgen früh um acht Uhr siebenundzwanzig. Vertrau mir, Léon. Tu, was ich dir sage. Und zwar gleich morgen früh, nicht erst übermorgen. Und jetzt geh nach Hause und pack deine Koffer!«
Dann lief er über die Straße und verschwand unter den Bäumen des Parc de Cluny. Léon erinnerte sich, dass sie sich beim letzten Abschied umarmt hatten. Er fragte sich, weshalb es diesmal nicht geschehen war.
Am Tag, an dem in Paris die Angestellten der städtischen Krankenhäuser, die Beamten der Banque de France sowie jene der Police Judiciaire sich dem Volksaufstand anschlossen und in Streik traten, war Léon Le Gall in einen altmodischen schwarzen Badeanzug gekleidet und lag sechshundert Kilometer südwestlich des Quai des Orfèvres in den Dünen von Lacanau unter einem rotweiß gestreiften Sonnenschirm. Seine Frau Yvonne saß neben ihm mit kerzengeradem Rücken und beobachtete ihre vier großen Kinder, die in der Brandung spielten, während der kleine Philippe zu ihren Füßen eine Sandburg baute.
Der Strand zog sich nach Norden und Süden viele Kilometer hin und war menschenleer, soweit das Auge reichte. Zuoberst auf den Dünen thronten die Bunker des Atlantikwalls, aus deren Schießscharten düster drohend die Geschützrohre auf den Ozean hinausragten, als wären die Wehrmachtsoldaten nur mal kurz Munition holen gegangen und würden jeden Augenblick in die Mannschaftsräume zurückkehren.
Mehrmals täglich lief Léon mit den Kindern die Wasserlinie entlang, um nachzuschauen, ob das Meer komisches Zeug angespült hatte. Mal fanden sie einen Lederball, mal einen intakten Küchenstuhl, mal ein Rahsegel samt Mast und Takelage. Daraus bastelten sie am Fuß der Düne ein Sonnendach.
Jeden Tag pünktlich um zwölf gab Yvonne das Signal zum Aufbruch. Dann warfen sie leichte Sommerkleider über ihre Badeanzüge, stapften durch die Dünen zurück in den Pinienwald und fuhren mit ihren Mieträdern über die schmalen Betonpisten, welche die Deutschen für ihre Motorradkuriere angelegt hatten, zum Mittagessen ins Hotel de la Cigogne. Nach der Siesta kehrten sie an den Strand zurück, und abends spielte auf dem Dorfplatz ein Akkordeonist zum Tanz. Mittwoch war Markttag, am Samstagabend gab es Freiluftkino auf dem Fußballplatz.
Léon empfand es als glückliche, aber auch bittere Ironie des Schicksals, dass er schon zum zweiten Mal in seinem Leben die Endphase eines Weltkriegs am Strand verbrachte. Zwar war er dankbar dafür, dass er seine Familie in einem privaten Idyll in Sicherheit hatte bringen können, aber Tag für Tag konnte er den Zeitungen und Radionachrichten entnehmen, dass gleichzeitig opfermutige Männer Weltgeschichte schrieben. Mit selbstquälerischem Eifer registrierte Léon, dass er selber in der Minute, da General Leclercs Panzerkolonne auf der Place de l’Étoile ankam, beim Frühstück gesessen und seinen zweiten Croissant in den Milchkaffee getunkt hatte; dass er in dem Augenblick, da eine Abteilung SS-Männer am Carrefour des Cascades mit Maschinengewehren fünfunddreißig Jugendliche erschoss, eine Portion Vanilleeis gelöffelt hatte; oder dass er, während die FFL erstmals wieder die Tricolore auf dem Eiffelturm hisste, damit beschäftigt war, aus einem Stück Treibholz ein Segelboot für den kleinen Philippe zu schnitzen; oder dass er, als General von Choltitz gegen den ausdrücklichen Zerstörungsbefehl Hitlers die Stadt kampflos und unversehrt an Leclerc übergab, gerade Mittagsschlaf hielt; und dass er in der Nacht, in der die deutsche Luftwaffe ihren ersten und letzten Angriff auf Paris flog und sechshundert Häuser zerstörte, mit Yvonne unter freiem Sternenhimmel auf dem Balkon ihres Hotelzimmers saß, auf den silbern schimmernden Ozean hinausgeschaut und dazu eine Flasche Bordeaux trank.
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