Léon und Louise: Roman (German Edition)
langen Flurs wie schon tausendmal zuvor, um sich bei ihren Vorgesetzten zurück zum Dienst zu melden.
Ich stelle mir vor, dass sie erst ein paar Tage später in die Rue des Écoles fuhr. Ich glaube, dass sie zuallererst das Hotelzimmer bezog, das die Bank ihr fürs Erste besorgt hatte, und dass sie erst einmal neue Wäsche und Kleidung kaufte, ihre Fingernägel in Ordnung brachte und beim Zahnarzt jenen Backenzahn oben links flicken ließ, der ihr schon eine ganze Weile Schmerzen bereitete. Dann ging sie zum Friseur und ließ sich das Haar schneiden; färben aber ließ sie es nicht, da bin ich sicher.
Ich stelle mir vor, dass Louise ihren Besuch in der Rue des Écoles auf den späten Vormittag legte und dass sie im Taxi vorfuhr, weil sie noch keinen eigenen Wagen hatte. Ich stelle mir vor, dass drinnen im Haus Madame Rossetos aufhorchte, als draußen eine Autotür zugeschlagen wurde, und dass sie einen Blick in den Spiegel warf, der ihr über zwei weitere Spiegel einen Blick vor die Haustür gestattete. Dann hievte sie sich aus ihrem Sessel beim Kohleofen, um ihre Pflicht als Hausdrache zu erfüllen.
»Sie wünschen?«
»Zu den Le Gall, bitte.«
»Worum geht es?«
»Die Le Gall wohnen doch noch hier?«
»Worum geht es, bitte?«
»Um einen persönlichen Besuch.«
»Sind Sie angemeldet?«
»Leider nein.«
»Wen darf ich melden?«
»Hören Sie …«
»Laut Hausordnung haben Unbekannte ohne Anmeldung keinen Zutritt zum Gebäude.«
»Sind die Le Gall noch hier?«
»Tut mir leid.«
»Ich bin soeben aus Afrika zurückgekehrt.«
»Aus Sicherheitsgründen kann ich leider keine Ausnahme machen, das müssen Sie … aus Afrika?«
»Französisch-Sudan.«
»Dann sind Sie …«
»Welche Etage, bitte?«
Die Wohnungstür stand eine Handbreit offen.
Louise klingelte.
»Wer ist da?«
»Louise.«
»Wer?«
»Louise.«
»WER?«
»LOUISE JANVIER!«
»DIE KLEINE LOUISE?«
»Genau.«
»Na sowas.«
»Ja.«
»Kommen Sie herein. Geradeaus durch den Flur, ich bin im Wohnzimmer.«
Louise stieß die Tür auf und zog sie hinter sich zu, und nach ein paar Schritten stand sie im Wohnzimmer, das sie so oft durchs Fernglas betrachtet hatte. In Léons Lesesessel am Fenster saß Yvonne – Louise hätte sie nicht wiedererkannt, aber es konnte niemand anderes sein. Ihre Füße steckten in karierten Hausschuhen, und ihre Unterschenkel waren geschwollen, und ihr Hals war von einer dicken Speckrolle umhüllt, und ihr Haar fiel ihr strähnig auf die Schultern.
»Léon ist nicht da.«
»Sie sind allein?«
»Die Kinder sind in der Schule.«
»Das ist gut«, sagte Louise. »Ich bin Ihretwegen hier.«
»Dann nehmen Sie Platz. So sehen Sie also aus. Ganz wie auf der Fotografie, die Sie aus Afrika geschickt haben.«
»Die Haare sind weiß geworden.«
»Die Zeit läuft. Auf den Fotos ist man immer jünger als in natura.«
»Da kann man nichts machen.«
»Sie schminken sich nicht.«
»Sie auch nicht.«
»Schon lange nicht mehr«, sagte Yvonne. »Und in letzter Zeit habe ich wohl etwas zugenommen.«
»Geht es Ihnen gut?«
»Ach, wissen Sie, am liebsten sitze ich einfach hier am Fenster in der Sonne wie eine Stubenkatze. Wenn ich müde bin, schlafe ich, und wenn ich Hunger habe, esse ich. Eigentlich habe ich ständig Hunger und bin dauernd müde. Wenn ich grad nicht schlafe.«
»Sie gehen überhaupt nicht mehr aus dem Haus?«
»Nicht, wenn ich es vermeiden kann. Ich bin so viel umhergerannt all die Jahre, jetzt will ich nur noch hier an der Sonne sitzen. Alles andere ist mir egal. Und wie geht es Ihnen?«
»Ich meinerseits habe so viel an der Sonne gesessen in den letzten Jahren …«
»Und essen will ich. Während so langer Zeit habe ich gefastet, jetzt will ich mal ordentlich futtern. Ich habe hier Himbeerkuchen und Schlagsahne, wollen Sie was abhaben?«
So saßen die beiden Frauen beisammen in der Herbstsonne und aßen Himbeerkuchen. Sie aßen langsam und schweigsam, und sie reichten einander Zucker, Schlagsahne und Servietten. Gelegentlich sagte die eine etwas, und die andere hörte zu, und dann schwiegen sie wieder und lächelten.
Louise erbot sich, in die Küche zu gehen und Kaffee zu machen, und Yvonne sagte, das wäre reizend von ihr. Unterdessen holte sie den Calvados und zwei Gläschen aus der Kommode und schnitt nochmal zwei große Stücke Himbeerkuchen ab. Die Standuhr auf der Kommode tickte. Es war schon elf Uhr vorbei, in einer Stunde würden die Kinder nach Hause kommen. Die Frauen
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