Léon und Louise: Roman (German Edition)
versetzte.
Er las gemächlich und betrachtete durchs Fenster die Spiegelungen auf der Oberfläche des Hafenbeckens, die Verfärbung der Platanen im Lauf der Jahreszeiten, den Gang der Gestirne sowie den Verlauf von Regen, Sonnenschein und Nebel, die ihm alle gleich lieb waren. Jeden Abend pünktlich um sieben stellte er das Radiogerät ein, legte das Ohr an den Lautsprecher und nahm, als sei die Stimme des Sprechers eine Kostbarkeit, die man keinesfalls vergeuden durfte, die Nachrichten von BBC in sich auf. So erfuhr er von Stalingrad und der Landung in Anzio, von der Operation Overlord und von den Bombennächten in Hamburg, Berlin und Dresden.
Mit Schrecken beobachtete Léon an sich selbst, dass in den tausend Tagen Besatzungszeit der Hass in ihm gewachsen war wie ein Baum; jetzt trug er seine Früchte. Nie hätte Léon es sich träumen lassen, dass er die Hände reiben würde bei der Nachricht vom Brand Charlottenburgs, niemals hätte er es für möglich gehalten, dass er lauthals jubeln würde über den Tod von dreitausend Frauen und Kindern in einer Nacht; verwundert stellte er fest, wie heiß in ihm der Wunsch brannte, dass der Bombenhagel von nun an Nacht für Nacht anhalten möge, bis auf Gottes weitem Erdenrund kein einziger Deutscher mehr am Leben war.
Sein Hass half ihm beim Überleben, aber dann geschah es auch, dass er verwirrende Begegnungen hatte. Einmal wurde er Zeuge einer Szene, die ihn zutiefst beschämte, weil sie ihn in seinem Hass erschütterte. Eines Nachmittags in der Métro saß Léon einem Wehrmachtsoldaten in Uniform mit umgehängtem Sturmgewehr gegenüber. An der Station Saint-Sulpice stieg ein junger Mann zu, der den gelben Stern auf dem Mantel trug. Der Soldat stand auf und bot dem Juden, der etwa in seinem Alter sein mochte, mit einer stummen Gebärde den Platz an. Der Jude zögerte und schaute sich hilfesuchend um, setzte sich dann aber wortlos an den freigewordenen Platz und legte, wahrscheinlich aus Scham und auswegloser Verzweiflung, beide Hände vors Gesicht. Der Soldat wandte sich von ihm ab und starrte aus dem dunklen Fenster mit steinerner Miene, während sich Stille über die Passagiere legte. Der Jude saß Léon direkt gegenüber, ihre Knie berührten sich beinahe. Weder der Wehrmann noch der Jude stiegen an der nächsten oder übernächsten Station aus, endlos dauerte die gemeinsame Fahrt. Der Jude behielt die ganze Zeit die Hände vor dem Gesicht, der Wehrmann stand vor ihm in soldatisch strammer Haltung. Der Zug fuhr und hielt an, fuhr und hielt an. Dann endlich kam die Station, an der der Wehrmann sich auf dem Absatz umdrehte und auf den Quai hinaustrat. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, dauerte die Stille an. Niemand wagte es, ein Wort zu sprechen. Der Jude behielt die Hände vor dem Gesicht. Léon konnte sehen, dass er einen Ehering trug und dass die äußeren Augenwinkel neben seinen Zeigefingern zuckten.
Der Sommer 1944 war schön und warm und lud zum Bade. Die Strände der Normandie und der Côte d’Azur aber waren wegen der alliierten Invasion nicht zugänglich, also blieben die Einwohner von Paris zu Hause und nutzten die Seine als Freibad. Der 4. August war der bis dahin heißeste Tag des Jahres. Auf den Trottoirs schmolz der Teer, die Pferde ließen die Köpfe hängen, und die Menschen hielten sich, wenn sie unbedingt ins Freie mussten, im schmalen Schattenstreifen, den die Häuser auf die Trottoirs warfen.
Léon hatte die Stunden nach Feierabend wie gewohnt im Hausboot verbracht, nun ging er in der Abenddämmerung nach Hause. Als er am Eingangstor des Musée Cluny vorbeikam, stand im Schatten des Torbogens ein Mann mit tief ins Gesicht gezogener Schiebermütze. Léon witterte Gefahr. Er beschleunigte seine Schritte und wandte den Blick der anderen Straßenseite zu.
»Psst!«, machte der Mann.
Léon ging weiter.
»Ein schöner Abend, nicht wahr?«
Léon trat auf die Straße, um in die Rue de la Sorbonne einzubiegen.
»Hého, bleib doch stehen!«
Léon ging weiter.
»Hände hoch, und keinen Schritt weiter!«
Léon blieb stehen und hob die Hände.
Der Mann in seinem Rücken lachte. »Entspann dich, Léon, ich mache nur Spaß!«
Zögernd ließ Léon die Hände sinken und drehte sich um, dann kehrte er zurück aufs Trottoir und musterte den Mann, der nun ins Licht der Straßenlaterne trat. Er hatte ein scharf geschnittenes Gesicht und blitzend scharfe Augen, und er kam Léon bekannt vor.
»Verzeihen Sie, kennen wir uns?«
»Ich
Weitere Kostenlose Bücher