Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
Vom Netzwerk:
Marschall Pétain und schließlich den Bombenabwurf von Nagasaki.
    Aber der Sonderzug wollte nicht kommen.
    Dann war wiederum ein Jahr vorbei, und einmal mehr hörte der Regen unvermittelt auf. Louise säbelte ihr Haar¸ das in der afrikanischen Hitze übrigens deutlich rascher wuchs als zu Hause, längst wieder selber ab. Der Schlamm trocknete aus, wurde hart und überzog sich mit einem Netz schwarzer Risse. Galiani verstaute seinen Regenschirm unter dem Bett im Wissen, dass in den nächsten sechs Monaten mit absoluter Sicherheit kein Tropfen Regen fallen würde. Louise fuhr an einem arbeitsfreien Tag mit der Eisenbahn nach Kayes, um auf dem Markt ein neues Moskitonetz und Ersatz für ihr altes Herrenfahrrad zu besorgen.
    Und dann endlich kam der Sonderzug.
    Vielleicht traf er tagsüber ein, vielleicht auch in der Nacht; wenn es so war, konnte Louise die Lokomotive frühmorgens nach dem Aufstehen von ihrem Fenster aus sehen, wie sie einen Steinwurf entfernt schnaubend und rauchend vor dem Prellbock stand. Wie viele Güterwagen angehängt waren, ist nicht bekannt, ebenso wenig, ob eine oder mehrere Fahrten nötig waren, um das Gold zurück nach Dakar zu schaffen. Aus den Annalen der Banque de France geht lediglich hervor, dass im Hafen von Dakar dreihundertsechsundvierzig Komma fünfdreifünf Tonnen Gold auf die Île de Cléron umgeladen wurden und dass das Schiff am 30. September 1945 in See stach. Falls alles glatt lief und die atlantischen Herbststürme nicht allzu heftig waren, müsste die Île de Cléron um den 12. Oktober im Hafen von Toulon eingelaufen sein.
    Ich stelle mir vor, wie Louise über die Gangway auf den Pier hinunterstieg und nach fünfjähriger Abwesenheit wieder französischen Boden betrat, braungebrannt und schlank wie als junges Mädchen, nur dass ihr Haar jetzt grau war. Gewiss hat sie die Gefährten ihrer letzten fünf Jahre zum Abschied auf die Wangen geküsst, den Funker Galiani, der hinter der Zollstation von seiner Ehefrau erwartet wurde, vielleicht ein bisschen länger als die anderen. Und weil sie nur Handgepäck mit sich führte und die anderen auf ihre Überseekoffer warten mussten, ist sie rasch fortgegangen im Wissen, dass sie keinen von ihnen jemals wiedersehen würde.
     
    Vielleicht war es später Nachmittag, als sie mit ihrem Koffer durch die Avenue Henri Pastoureau hinauf zum Bahnhof ging, und vielleicht hat sie unterwegs in einer Konditorei ihren ersten Eclair au Chocolat seit langer Zeit gekauft. Dann könnte sie abends um halb neun in Marseille Saint-Charles den Nachtzug nach Paris erreicht haben, und dann müsste sie am folgenden Morgen kurz vor acht in Paris eingetroffen sein.
    Ich glaube nicht, dass Louise bei der Einfahrt in die Gare de Lyon ungeduldig an der offenen Waggontür stand und den Kopf in den Fahrtwind hielt. Ich glaube nicht, dass sie im Laufschritt die Bahnhofshalle durchmaß, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich tatsächlich, wie sie es in ihrem letzten Brief angekündigt hatte, in ein Taxi stürzte und auf direktem Weg in die Rue des Écoles fuhr.
    Ich glaube vielmehr, dass sie still in ihrem Abteil dritter Klasse sitzen blieb, bis alle Fahrgäste ausgestiegen waren, und dass sie dann leise und behutsam, zaghaft beinahe, auf den Bahnsteig hinunterstieg, im Licht jenes heiteren Herbsttags Schritt für Schritt durch die Bahnhofshalle ging und aufs Kopfsteinpflaster des Boulevard Diderot hinaustrat, der schon wieder summte und brauste vom Strom der Busse, Autos und Lastwagen, als hätte es nie einen Krieg gegeben.
    Ich stelle mir vor, dass Louise den Boulevard überquerte und geradeaus weiterging durch die Rue de Lyon, überwältigt von der unfassbaren Unversehrtheit der Häuserzeilen links und rechts. Bei der Bastille setzte sie sich in ein Straßencafé, bestellte einen Milchkaffee und einen Croissant und nahm eine Zeitung zur Hand, und dann warf sie vielleicht einen beiläufigen Blick auf die Hausboote im Arsenal-Hafen, die sich friedlich in der Brise wiegten.
    Danach schlenderte sie weiter durch den kühlen Morgen mit ihrem Köfferchen wie eine Touristin, immer geradeaus durch die Rue Saint-Antoine und die Rue de Rivoli, und nach einer Weile gelangte sie, als wär’s ein Zufall, zum Hauptsitz der Banque de France. Sie stieg die weit ausladende Treppe hinauf zum Eingangsportal, ging beiläufig grüßend am Portier vorbei, der immer noch oder schon wieder diese schnauzbärtige Type namens Darnier war, und verschwand im Halbdunkel eines

Weitere Kostenlose Bücher