Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
Vom Netzwerk:
steter Alarmbereitschaft wich einer Miene satter Zufriedenheit, manchmal auch müden Überdrusses. Die Kinder musterten sie mit scheuer Verwunderung und hielten sich mehr denn je von ihr fern. Binnen weniger Tage glättete sich ihr Hals und rundeten sich ihre Schultern und Hüften, dann quollen die Finger und schwoll die Brust. Ihre blauen Augen, die stets wachsam ein wenig vorgestanden hatten, versanken Tag für Tag tiefer in den Polstern um die Augenhöhlen. Weil schon bald an ihren Kleidern die Nähte rissen, fuhr sie Ende der ersten Septemberwoche mit dem Bus nach Bordeaux und kaufte drei bequeme, weite Sommerröcke. Und als sie am Abend des 25. September die Koffer für die Heimreise packte, ließ sie ihre alten, schmalen Kriegskleider im Schrank liegen im Wissen, dass sie sie niemals im Leben wieder würde anziehen können.

19. KAPITEL
     
    An jenem 26. September 1944, an dem Léon Le Gall mit seiner Familie in die Rue des Écoles zurückkehrte, endete am Senegal-Fluss wieder einmal die Regenzeit, als ob jemand den Wasserhahn zugedreht hätte. Die Nachricht von der Befreiung von Paris hatte sich in Windeseile in die hintersten Winkel Französisch-Sudans verbreitet, und wie von Zauberhand waren über Nacht die wichtigsten Einrichtungen der kolonialen Welt zu neuem Leben erwacht. Übers Land trafen wieder Eisenbahnzüge ein und über den Senegal-Fluss Dampfschiffe, und das Telefon funktionierte wieder, und die Post brachte Zeitungen.
    Aber der Sonderzug, der Louise Janvier und das Gold abholen sollte, kam nicht.
    Weil im Nachlass meines Großvaters keine weiteren Briefe von Louise zu finden sind, kann man nicht wissen, wie es ihr in jener Zeit ergangen ist. Man kann annehmen, dass sie sehnsüchtig auf den Zug wartete oder wenigstens auf einen Brief der Banque de France. Wahrscheinlich saß sie auf ihrem gepackten Koffer. Gut möglich, dass sie ihren Sonnenschirm, den Revolver und das Ersatz-Moskitonetz schon verschenkt hatte in Erwartung der baldigen Abreise. Gut möglich auch, dass sie sich das Haar für einmal nicht selbst abschnippelte, sondern an einem Sonntag eigens nach Kayes zum Friseur fuhr. Weiter kann man sich vorstellen, dass sie, als der Schlamm eingetrocknet und die Straße wieder befahrbar war, zum Kraftwerk von Félou hinausradelte und sich von den Brüdern Bonvin verabschiedete, und vielleicht unternahm sie mit ihnen einen vermeintlich letzten Spaziergang zu den Wasserbecken unterhalb der Stromschnellen, in denen die Nilpferde ihre Jungen aufzogen. Gut möglich auch, dass sie auf der Rückfahrt ihr Rad jenem jungen Dorfschullehrer namens Abdoullay schenkte, der bei den Sieben- bis Zwölfjährigen seines Dorfes eine Einschulungsquote von hundert Prozent erreicht hatte.
    Und dann denke ich mir, dass jede Nacht, die sie noch in Giuliano Galianis Bett verbrachte, sich anfühlte, als ob es die letzte gewesen sei.
    Aber der Sonderzug kam nicht.
    Seit Radio und Funk wieder funktionierten, stolzierte Galiani zu allen Tages- und Nachtzeiten durch die Straßen, um die jüngsten Nachrichten zu verkünden. Er verkündete den Einmarsch des VII. und IX. US-Korps in Aachen und das Scheitern der deutschen Ardennenoffensive, dann die Bombardierung der Hamburger Treibstofflager und die Kapitulation Ungarns, und je länger sein persönliches Exil dauerte, desto schwärzer wurden seine halb italienischen, halb französischen Flüche auf diesen Hurensohn von einem Maresciallo de Gaulle und diese Cretini von der Banque de France, die sich verflucht nochmal verdammt viel Zeit damit ließen, ihn und dieses verschissene Hurengold endlich aus dem Arsch der Welt herauszuholen. Vielleicht hätte Galiani etwas leiser geflucht, wenn er gewusst hätte, dass de Gaulle und die Banque de France ihn nur deshalb in der Steppe vermodern ließen, weil im Mittelmeer noch immer einige bestens mit Treibstoff und Munition alimentierte deutsche U-Boote auf die Gelegenheit warteten, Galiani und das Gold auf den Grund der See zu versenken.
    Im März 1945 endete die Trockenzeit, es wurde wieder heiß und feucht. Galiani holte seinen Regenschirm hervor und stapfte fluchend durch den Schlamm, vermeldete die Befreiung von Auschwitz und die Zerstörung von Dresden, hob anklagend die Arme gen Himmel und fragte die Geier in den Bäumen, weshalb um Jesumariawillen man ihn nicht endlich nach Hause fahren lasse. Louise saß auf ihrem Koffer und wartete. Galiani meldete die Konferenz von Jalta und den Brand im Führerbunker, den Prozess gegen

Weitere Kostenlose Bücher