Léon und Louise: Roman (German Edition)
nur dass sie diesmal keine Bluse, sondern einen blauen Pullover trug. Sie warf in vollem Lauf mit wohldosiertem Schwung die Tür hinter sich zu, ging zielstrebig zum Tresen und grüßte unterwegs die Stammgäste links und rechts. Nur eine Armlänge von Léon entfernt blieb sie stehen und bestellte beim Wirt zwei Schachteln Turmac-Zigaretten. Während er die Zigaretten aus dem Regal nahm, kramte sie Münzen hervor und legte sie in die Geldschale, dann räusperte sie sich und strich sich mit den Fingerspitzen der rechten Hand eine Strähne hinters Ohr, die dort aber nicht bleiben wollte und sofort wieder nach vorne schnellte.
»Bonsoir, Mademoiselle«, sagte Léon.
Sie wandte sich nach ihm um, als bemerke sie ihn erst jetzt. Léon schaute ihr in die Augen, und in der ersten Sekunde schien ihm, als erkenne er in der Tiefe ihres grünen Augengrunds die Ahnung einer großen Freundschaft.
»Dich kenne ich«, sagte sie, »aber woher?« Ihre Stimme war noch bezaubernder, als Léon sie in Erinnerung gehabt hatte.
»Von der Landstraße«, sagte er. »Sie haben mich auf dem Fahrrad überholt. Zweimal.«
»Ach ja.« Sie lachte. »Ist eine Weile her, nicht?«
»Fünf Wochen und drei Tage.«
»Ich erinnere mich, du sahst müde aus. Hattest komisches Zeug hinten aufs Rad gebunden.«
»Einen Kanister Petroleum und ein Fensterkreuz«, sagte er. »Und eine Mistgabel ohne Stiel.«
»Sowas schleppst du mit dir rum?«
»Manchmal finde ich sowas, dann schleppe ich es mit mir rum. Übrigens bin ich froh, dass es Ihrem rechten Auge besser geht.«
»Was ist mit meinem rechten Auge?«
»Das war damals ziemlich rot. Vielleicht war eine Mücke hineingeflogen oder eine Fliege.«
Das Mädchen lachte. »Ein Maikäfer war’s, groß wie ein Hühnerei. Daran erinnerst du dich?«
»Und Ihr Fahrrad hat gequietscht.«
»Das quietscht immer noch«, sagte sie und steckte sich eine Zigarette an, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt wie ein Straßenjunge. »Und du? Stehst dir hier jeden Abend die Beine in den Bauch?«
Oh, dachte Léon. Das Mädchen weiß, dass ich hier jeden Abend rumstehe. Oh, oh. Das bedeutet doch wohl, dass es meine Existenz bereits zur Kenntnis genommen hat, und zwar verschiedentlich. Oh, oh, oh. Und jetzt kommt es her und lügt und tut, als ob es mich nicht wiedererkennen würde. Oh, oh, oh, oh.
»So ist es, Mademoiselle. Sie finden mich hier, wann immer Sie wollen.«
»Wieso?«
»Weil ich nicht weiß, wo ich mir sonst die Beine in den Bauch stehen soll.«
»Ein großer Bursche wie du? Sonderbar«, sagte sie, verstaute die Zigarettenschachteln in der Tasche und wandte sich zum Gehen. »Ich habe immer gedacht, Eisenbahner seien regsame Leute, vielleicht sogar mit Fernweh. Da habe ich mich wohl getäuscht.«
»Ich wollte gerade gehen«, sagte er. »Darf ich Sie ein Stück begleiten?«
»Wohin denn?«
»Wohin Sie wollen.«
»Lieber nicht. Mein Heimweg führt durch eine dunkle Gasse. Dort würdest du mir womöglich etwas über Geschwisterseelen erzählen. Oder versuchen, mir die Zukunft aus der Hand zu lesen.«
Und weg war sie.
4. KAPITEL
Während das Mädchen und Léon miteinander sprachen, war es im Café du Commerce ungewöhnlich still geworden; der Wirt hatte ausgiebig das immergleiche Weinglas abgetrocknet, die Stammgäste hatten Rauchringe zur Decke hinauf geblasen und mit den glühenden Spitzen ihrer Zigaretten die Asche in den Aschenbechern zu kleinen Haufen zusammengeschoben. Als nun das Mädchen hinter der Glastür verschwunden war, erwachten sie aus ihrer Erstarrung und begannen zu reden – nur schleppend und stockend vorerst, aber schon in froher Erwartung des Augenblicks, da Léon ebenfalls verschwinden würde und man die eben beobachtete Komödie eingehend in all ihren Facetten würde besprechen können. Tatsächlich knöpfte Léon wenig später seine Uniformjacke zu und winkte dem Wirt zum Abschied – aber da konnte dieser seinen Mitteilungsdrang nicht länger im Zaum halten und hielt Léon am Ärmel fest, drängte ihm ein Glas Bordeaux für den Heimweg auf und erzählte ihm alles, was er über das Mädchen mit der rotweiß gepunkteten Bluse wusste.
Die kleine Louise – eigentlich war sie nicht auffällig klein gewachsen, sondern wurde von den Leuten nur so genannt, damit man sie unterscheiden konnte von der dicken Louise, welche die Ehefrau des Totengräbers war –, die kleine Louise also war den Einwohnern von Saint-Luc vor zwei Jahren zugelaufen wie eine Katze. Manche
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