Léon und Louise: Roman (German Edition)
die Kirche zu laufen und den seelsorgerischen Beistand des Pfarrers zu erbitten, obwohl der doch sein Erzfeind war, seit er sich den Scherz mit dem Urinal geleistet hatte.
So war die Lage, als im Frühjahr 1915 die kleine Louise in Saint-Luc eintraf und ihre Botengänge aufnahm. Sie begriff rasch den Zusammenhang zwischen den Vorladungen und den bäurisch ungelenken Dramen im Büro des Bürgermeisters. Zehn, vielleicht fünfzehn Mal beobachtete Louise, wie der Stadtvater hinter seinem Schreibtisch schwitzte und zitterte, um Worte und Haltung rang und doch nie aus seiner hölzernen Amtswürde hinausfand; und als sie mit Bestimmtheit wusste, dass sich daran bis zum Kriegsende nichts ändern würde, beschloss sie zu handeln.
»Bitte entschuldigen Sie, Monsieur le Maire«, sagte sie am folgenden Nachmittag, als sie wieder eine Vorladung ausliefern sollte.
»Was denn«, sagte der Bürgermeister, fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Brauen und gestattete sich einen Blick auf die schön geschwungene Linie ihres Halses.
»Ist das hier eine dieser Vorladungen?«
»Was denn sonst, meine kleine Louise, was denn sonst.«
»Um wen handelt es sich?«
»Um Lucien, den einzigen Sohn der Witwe Junod«, sagte der Bürgermeister. »Neunzehn Jahre alt, die Mädchen nannten ihn Lulu. Gefallen am 7. Februar in Ville-sur-Cousances. Hast du ihn gekannt?«
»Nein.«
»Er war an Weihnachten noch auf Urlaub, ich habe ihn in der Mitternachtsmesse gesehen. Hatte eine schöne Stimme.«
Louise nahm den Umschlag und ging hinaus, stieg aufs Rad und fuhr mit großer Geschwindigkeit quer über die Place de la République auf direktem Weg an den westlichen Stadtrand, wo das Haus der Witwe Junod stand. Sie klingelte und überreichte ihr den Umschlag, und als sie ihn mit dem Zeigefinger aufriss und ratlos die Vorladung betrachtete, sagte Louise:
»Sie müssen da nicht unbedingt hingehen.«
Dann nahm sie die Frau am Ellbogen und führte sie ins Haus, setzte sich mit ihr aufs Sofa und sagte ihr, dass ihr Lulu nicht wiederkommen werde, weil er im Krieg gestorben sei.
Louise saß schweigend auf dem Sofa, während die Frau sich schreiend zu Boden warf und sich büschelweise Haare ausriss, und später ließ sie zu, dass die Frau mit den Fäusten auf sie einschlug und sich ihr an den Hals warf, um sich gründlich auszuweinen, wie sie es bei einem Verwandten oder Freund vielleicht nicht hätte tun können. Louise reichte ihr ein Taschentuch und später noch eins, und als die Witwe Junod einigermaßen zur Ruhe gekommen war, steckte sich Louise eine ihrer zuckerbestäubten Zigaretten an, bettete die Witwe auf ein Kissen und ging in die Küche, um Tee zu bereiten. Und als sie mit der dampfenden Tasse zurückkehrte, sagte sie:
»So, ich werde jetzt gehen. Kümmern Sie sich nicht weiter um die Vorladung, Madame Junod. Ich sage dem Herrn Bürgermeister, dass Sie nicht kommen werden.«
Als Louise dem Bürgermeister Minuten später berichtete, wie sie die Angelegenheit erledigt hatte, machte dieser ein strenges Gesicht und sagte etwas von Anmaßung und Amtsgeheimnisverletzung; aber natürlich war er heilfroh und von Herzen dankbar, dass ihm das unausweichliche Drama diesmal erspart geblieben war. Und als am folgenden Tag gleich zwei solcher Vorladungen anstanden, gab er Louise keine Ermahnung mit auf den Weg, sondern im Gegenteil ungefragt jene Auskünfte, die sie zur Erfüllung ihrer neuen Mission benötigte.
»Dieser hier hieß Sebastien«, sagte der Bürgermeister und schaute, während er ihr den ersten Umschlag reichte und sie sich vorbeugte, zur Decke hoch, um nicht den Ausschnitt ihrer Bluse sehen zu müssen. »Er war der jüngste Sohn des Bauern Petitpierre. Gefallen am 16. April auf dem Damloup-Rücken. Ein braver Junge, hatte eine Hasenscharte und ein gutes Händchen für Pferde.«
»Und der zweite?«
»Notar Delacroix. Fünfzig Jahre alt und kinderlos, keine Eltern mehr. Da gibt’s nur die Frau. Und jetzt lauf, meine kleine Louise. Na geh, mach schon.«
Fortan mussten die Hinterbliebenen nicht mehr im Rathaus vorsprechen. Louise brachte nur die Vorladung ins Haus, dann wussten die Leute Bescheid und konnten sich, während sie als stiller, freundlicher Todesengel auf dem Sofa saß, ganz der ersten großen Welle ihres Schmerzes hingeben. Am nächsten oder übernächsten Tag war es dann meistens so weit, dass die Angehörigen nach Louise schickten, weil sie Genaueres wissen wollten über die Todesumstände; dann machte sie einen
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