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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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Leute behaupteten, sie sei ein Waisenkind und stamme aus einem jener Backsteindörfer an der Somme, von denen nach der deutschen Frühjahrsoffensive 1915 kein Stein auf dem anderen geblieben war. Genaueres wusste niemand; die wenigen, die in den ersten Wochen Louise nach ihrer Herkunft befragt hatten, waren von ihr mit derart katzenhafter Schärfe zum Schweigen gebracht worden, dass fortan keiner es mehr wagte, das Thema zur Sprache zu bringen. Sie sprach ein klares, akzentfreies Französisch, das keine geographische Zuordnung zuließ, aber die Vermutung nahelegte, dass sie aus gutem Hause stammte und gute Schulen besucht hatte.
    Wie Léon war Louise mit dem Stellenvermittlungsprogramm des Kriegsministers ins Städtchen gekommen. Sie arbeitete als Gehilfin im Büro des Bürgermeisters, wo sie Botengänge erledigte, Kaffee kochte und die Topfpflanzen goss. Auf eigene Faust hatte sie den Umgang mit der Schreibmaschine gelernt, die bis dahin unbenutzt im Vorzimmer gestanden hatte. Die kleine Louise war ein waches, flinkes Mädchen, das sich in allem geschickt anstellte – die Topfpflanzen gediehen wie nie zuvor, der Kaffee mundete bestens, und schon bald schrieb sie auf der Maschine fehlerfreie Briefe.
    Der Bürgermeister war sehr zufrieden mit ihr, und erstaunt stellte er nach ein paar Wochen fest, dass er gegen seinen Willen äußerst empfänglich war für ihren raubeinigen, absichtslosen Charme; da ihm aber bewusst war, dass dreißig Jahre Altersunterschied immer dreißig Jahre Altersunterschied bleiben, erlegte er sich im Umgang mit seiner Bürogehilfin demütig äußerste Zurückhaltung auf und behandelte sie mal mit gespielter Zerstreutheit, dann mit distanzierter Höflichkeit oder falscher Strenge. Immerhin gestattete er sich die Schwäche, Louise für ihre Botengänge, die sie zuverlässig und rasch erledigte, sein altes Herrenfahrrad zu schenken, das seit Jahren unbenutzt in seiner Scheune gestanden hatte.
    Frühmorgens fuhr sie damit zum Postamt und leerte das Postfach, um halb zehn besorgte sie Croissants, und wenn kurz vor Mittag unerwartet im Büro noch dringende Amtsgeschäfte anstanden, holte sie den Bürgermeister aus dem Café des Artistes , wo er seinen Apéritif zu nehmen pflegte. Nachmittags war sie ebenfalls mit dem Rad unterwegs. Sie trug Zahlungsbefehle, Verfügungen und kleinere Geldbeträge aus, und sie überbrachte amtliche Aufträge an den Gemeindediener, den Wegmacher, die Gendarmerie und den Schornsteinfeger.
    Das Schwerste aber waren jene förmlichen, kurz gehaltenen Vorladungen, die Louise im Auftrag des Bürgermeisters den Familien gefallener Soldaten überbringen musste. Diese Vorladungen waren durchaus nichtssagend und enthielten nichts weiter als die Aufforderung an die Ahnungslosen, an diesem oder jenem Tag zu genannter Uhrzeit im Rathaus vorstellig zu werden. In den ersten Kriegsmonaten hatten die Betroffenen diese Vorladungen noch schulterzuckend entgegengenommen und sich gehorsam auf den Weg gemacht, um arglos vor dem Schreibtisch des Bürgermeisters zu stehen, ihre Mützen zu kneten und sich zu erkundigen, was es denn so Wichtiges gebe, dass man sie von der Arbeit weg aufs Amt bestelle. Darauf brachte der Bürgermeister ihnen mit blecherner Stimme in einer hochoffiziellen Mitteilung, die er von einem Blatt ablas, zur Kenntnis, dass ihr Sohn, Ehemann, Vater, Enkel oder Neffe dann und dann dort und dort im Dienst des Vaterlands den Heldentod auf dem Feld der Ehre gestorben sei, wofür ihnen der Kriegsminister persönlich sowie er selbst, der Bürgermeister, ihr tief empfundenes Beileid und den Dank der ganzen Nation aussprächen.
    Die darauf folgenden Szenen der Verzweiflung, denen der Bürgermeister schutzlos ausgeliefert war, versuchte er zu mildern, indem er die Untröstlichen unter Verweis auf Ruhm, Vaterland und Jenseits tröstete, was diese als Verspottung ihres Leids empfinden mussten, da sie, wenn man ihnen schon ihren Liebsten nicht zurückgeben konnte, wenigstens ihre Trauer behalten wollten.
    Es kam sogar vor, dass der Bürgermeister in seinem Büro an einem Tag zwei oder drei solche Dramen zu überstehen hatte. Er begann sich mit großen Mengen Pastis zu betäuben und konnte nachts trotzdem nicht schlafen, seine Verdauung geriet durcheinander, und der Kopf wurde ihm schwer, und in seinem Büro, das bisher ein Ort würdevoller Selbstzufriedenheit gewesen war, machten sich Trauer und namenloses Grauen breit. So groß war seine Not, dass er mehrmals kurz davor stand, in

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