Léon und Louise: Roman (German Edition)
und knöpfte seine Jacke zu.
»Lass mal sehen, ich habe mit der heutigen Post die neue Liste mit Stellenangeboten des Kriegsministeriums erhalten. Sag mir, was kannst du denn?«
Wie es sich ergab, suchte die Police Judiciaire am Quai des Orfèvres in Paris dringend einen zuverlässigen Fernmeldespezialisten mit langjähriger Erfahrung in Morsetechnik, Stellenantritt per sofort. Der Bürgermeister griff zum Telefon, und anderntags nahm Léon den Frühzug um acht Uhr sieben nach Paris.
8. KAPITEL
Seit jenem Tag waren zehn Jahre vergangen. Léon war ein noch immer junger Mann von achtundzwanzig Jahren. Sein Haar war vielleicht nicht mehr ganz so voll wie damals, aber seine Gestalt war leicht und jugendlich, und auf der Treppe zur Métrostation nahm er, auch wenn er nicht in Eile war, nach wie vor zwei Stufen aufs Mal, manchmal sogar drei.
Er legte Kleingeld in die Messingschale und nahm seinen Fahrschein, ging am automatischen Portillon vorbei und die Treppe hinunter in den weißgekachelten Tunnelschacht. Es war die Stunde, da seine Frau Yvonne, die dreiunddreißig Jahre später meine Großmutter werden sollte, das Abendessen zubereitete und sein erstgeborenes Söhnchen, das zu meinem Onkel Michel heranwachsen sollte, im goldenen Trapez, das die Sonne im Salon auf den Parkettboden warf, mit seiner Blechlokomotive spielte. Léon stellte sich vor, wie die beiden sich über die Erdbeertörtchen freuen würden, und gab sich der Hoffnung hin, dass der Abend wieder einmal einen friedlichen Verlauf nehmen werde.
In den letzten Wochen waren friedliche Stunden selten gewesen. Kaum ein Abend war vergangen ohne häusliches Drama, das stets ohne ersichtlichen Grund, gegen ihrer beider Willen und aus nichtigstem Anlass über sie hereingebrochen war; und die Wochenenden waren eine einzige Folge tapfer verheimlichten Unglücks, überdrehter, falscher Fröhlichkeit und plötzlicher Tränenausbrüche gewesen. Während die Métro in die Station einfuhr, rief Léon sich das Drama vom Vorabend in Erinnerung. Es hatte seinen Anfang genommen, nachdem er den Kleinen zu Bett gebracht und ihm wie jeden Abend eine Gutenachtgeschichte erzählt hatte. Als er in den Salon zurückkehrte und die Schachtel mit den Einzelteilen jener Napoléon-III.-Wanduhr aus dem Schrank nahm, die er auf dem Flohmarkt als rostiges Gerippe gekauft hatte und seit Monaten in Gang zu bringen versuchte, hatte Yvonne ihn aus scheinbar heiterem Himmel ein Monstrum an Gleichgültigkeit und Gefühlskälte genannt, war in Pantoffeln aus der Wohnung gestürzt und durchs Treppenhaus hinunter in die Rue des Écoles gerannt, wo sie ratlos und blind vor Tränen in der Abenddämmerung stehen blieb, bis Léon sie einholte und am Arm zurück in die Wohnung geleitete. Er hatte sie zum Sofa geführt, ihr eine Decke über die Schultern gelegt und Briketts in den Ofen geschoben, die Schachtel mit der Wanduhr zum Verschwinden gebracht und Tee aufgesetzt, und dann hatte er sich halb heuchelnd, halb aufrichtig für seine Unaufmerksamkeit entschuldigt und sich erkundigt, womit er sie denn so betrübt habe. Und da sie keine Antwort wusste, war er in die Küche zurückgekehrt und hatte Schokolade geholt, während sie auf dem Sofa sitzen blieb und sich unnütz, dumm und hässlich fühlte.
»Sei ehrlich, Léon, gefalle ich dir noch?«
»Du bist meine Frau, Yvonne, das weißt du doch.«
»Ich habe Flecken im Gesicht und trage Stützstrümpfe wegen der Krampfadern. Wie eine alte Frau.«
»Das geht vorbei, Liebes. Das ist doch nicht wichtig.«
»Siehst du, es ist dir egal.«
»Aber nein.«
»Du hast gerade gesagt, es sei nicht wichtig. Ich verstehe dich ja, mir wär’s an deiner Stelle auch egal.«
»Es ist mir nicht egal, was redest du denn.«
»An deiner Stelle hätte ich mich längst verlassen. Sei ehrlich, Léon, hast du eine andere?«
»Aber nein. Ich betrüge dich nicht, das weißt du doch.«
»Ja genau, das weiß ich doch.« Yvonne nickte bitter. »So etwas würdest du nie tun, und zwar aus dem einen schlichten Grund, weil es falsch wäre. Du tust stets das Richtige, nicht wahr? Du bist immer so beherrscht, du könntest mich gar nicht betrügen, mein gewissenhafter Léon, selbst wenn du es dir noch so dringend wünschtest. Das wird dir nie passieren, dass du etwas tust, was du nicht für richtig hältst.«
»Hältst du das für falsch, dass ich nichts Falsches tun will?«
»Manchmal wünschte ich, ich könnte dich aus dem Gleichgewicht bringen, verstehst du? Manchmal
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