Léon und Louise: Roman (German Edition)
das sandige Plätzchen zwischen den Felsen, an dem er mit Louise eine Nacht verbracht hatte.
Zweiundvierzig Tage war das erst her. Das Meer war dieselbe bleigraue Paste wie damals, der Wind trieb dieselben Regenwolken über den Kanal, und die Möwen spielten genauso mit dem Aufwind, und die Welt schien unbeirrt von den Entsetzlichkeiten, die sich in der Zwischenzeit an Land ereignet hatten; die Möwen würden auch morgen und übermorgen mit dem Aufwind spielen, und sie würden auch dann noch mit dem Aufwind spielen, wenn hinter den Klippen im Norden Frankreichs nicht nur ein paar hunderttausend Männer, sondern sämtliche Menschenvölker dieser Erde sich vollzählig versammeln würden, um einander in einem letzten wirklich großen Blutrausch milliardenweise hinzuschlachten, und die Möwen würden auch dann noch ihre Eier legen und ausbrüten, wenn über diese Klippen sich ein letzter Strom von Menschenblut hinab ins Meer ergoss – die Möwen würden mit dem Aufwind spielen bis in alle Ewigkeit, weil sie eben Möwen sind und keine Veranlassung haben, sich in ihrem Möwenleben mit den Dummheiten von Menschen, Buckelwalen oder Spitzmäusen herumzuschlagen.
Weil Léon als Zivilist das Diensttelefon im Lazarett unter keinen Umständen benutzen durfte, schleppte er sich drei Tage später gegen das ausdrückliche Verbot des Chefarztes die vierhundert Treppenstufen hinunter ins Städtchen und ließ sich auf dem Postamt mit dem Rathaus von Saint-Luc-sur-Marne verbinden; als dort niemand abnahm, rief er den Bahnhof an.
Es war Madame Josianne, die nach viel Rauschen und Knacken und der Vermittlung dreier aufeinanderfolgender Telefonistinnen den Hörer abnahm, und Léon musste seinen Namen mehrmals wiederholen, bis sie verstand, wer am Apparat war. Sie brach in weinerlichen Jubelsingsang aus, nannte ihn ihren herzallerliebsten Engel und wollte wissen, wo um Jesumariawillen er die ganze Zeit gesteckt habe, ließ ihn dann aber nicht zu Wort kommen, sondern befahl ihm, auf der Stelle nach Hause zu kommen, da hier alle in großer Sorge um ihn seien, wobei man sich ehrlich gesagt schon gar keine Sorgen mehr gemacht habe, er müsse das verstehen, fünf Wochen nach seinem spurlosen Verschwinden und nach Ausbleiben jedes Lebenszeichens, sondern mit großer Sicherheit davon ausgegangen sei, dass er wie die kleine Louise, mit der man ihn ja aus der Stadt habe fahren sehen, dass er also wie die arme kleine Louise in der letzten deutschen Offensive von Ende Mai, in der allerletzten deutschen Offensive nach vier Jahren Krieg, dieses Pech müsse man sich mal vorstellen, denn es sei jetzt doch wohl klar, dass die Boches nun zurück über den Rhein geprügelt würden, das sei die Rache für Siebzigeinundsiebzig, der Krieg sei entschieden und praktisch schon vorbei, seit die Amerikaner mit ihren Panzern und ihren Negersoldaten …
»Was ist mit Louise?«, fragte Léon.
Jedermann im Städtchen habe angenommen, dass Léon irgendwie in die deutsche Offensive vom 30. Mai geraten sei, weshalb man übrigens, sie sage das ungern, seinen Posten als Morseassistent neu habe besetzen müssen, er werde das gewiss verstehen, die Arbeit habe nicht warten können, was ihn aber nicht daran hindern solle, auf der Stelle nach Hause zu kommen, eine Suppe und ein Plätzchen zum Schlafen finde er bei Madame Josianne immer, alles Weitere werde sich fügen.
»Was ist mit Louise?«, fragte Léon.
»Scheiße«, seufzte Madame Josianne in ungewohnt burschikoser Wortwahl und zog dabei die Vokale in die Länge, als könne sie so die unausweichliche Antwort hinauszögern.
»Was ist mit Louise?«
»Hör zu, mein Goldschatz, die kleine Louise ist bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen.«
»Nein.«
»Doch.«
»Scheiße.«
»Ja.«
»Wo?«
»Ich weiß es nicht, mein Liebling, niemand weiß es. Man hat ihre Tasche und ihre Identitätskarte gefunden auf der Landstraße zwischen Abbeville und Amiens. Keine Ahnung, was sie dort verloren hatte. Die Leute sagen, dass die Tasche leer war bis auf eine Boje und vier Jakobsmuscheln und dass auf dem Ausweis Blutflecken waren. Ob’s stimmt, weiß ich nicht, du weißt ja, mein Engel, wie die Leute sind, geredet wird viel.«
»Und das Fahrrad?«, fragte Léon und schämte sich schon eine Sekunde später für seine belanglose Frage. Auch Madame Josianne schwieg verwundert und sprach dann taktvoll in sanftem Tonfall weiter.
»Wir sind hier alle sehr traurig, mein kleiner Léon, jedermann in Saint-Luc hat Louise sehr
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