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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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abzuschätzen, wie viel Zeit er benötigen würde, um über die Treppen auf den anderen Bahnsteig zu gelangen. Da wurden rumpelnd die offenen Türen geschlossen, Léon war gefangen. Er nahm den Hut ab und schwenkte ihn durch die Luft – jetzt endlich wandte sie sich ihm zu.
    Jetzt endlich trafen sich ihre Blicke, und seine letzten Zweifel schwanden, als der fragende Ausdruck in ihren grünen Augen erst ungläubigem Staunen, dann freudigem Erkennen wich und in ihrem Lächeln eine Zahnlücke aufschien. Aber dann nahmen beide Züge gleichzeitig in entgegengesetzte Richtungen Fahrt auf, die Entfernung zwischen ihnen wurde größer und der Blickwinkel enger, und dann hatten sie einander schon wieder verloren.
    Während Léon durch den Tunnel fuhr, überlegte er in panischer Eile, was zu tun sei, und kam auf drei Möglichkeiten, die ihm alle ähnlich vernünftig schienen. Er konnte erstens mit dem nächsten Zug nach Saint-Sulpice zurückkehren und hoffen, dass sie dasselbe tat; oder er konnte eine Station über Saint-Sulpice hinaus fahren in der Annahme, dass sie dort ausgestiegen war und auf ihn wartete. Oder er konnte selber an der nächsten Station warten in der Hoffnung, dass sie ihm hinterherfuhr.
    In jedem Fall war es ein aussichtsloses Unterfangen, während der Stoßzeit in den prall gefüllten Zügen, Bahnsteigen und Treppenaufgängen einen einzelnen Menschen wiederzufinden, von dem man nicht einmal wusste, ob er irgendwo wartete oder selber suchend durch den Untergrund eilte. Als Erstes fuhr Léon zurück nach Saint-Sulpice, stieg auf eine Sitzbank unter einem Werbeplakat, das ein knallrotes Citroën-Cabriolet 10cv B14 bei der Durchquerung einer Dünenlandschaft zeigte, und versuchte sich über die Köpfe hinweg einen Überblick über beide Bahnsteige zu verschaffen. Da er nur graue Hüte und fremde Frisuren sah, fuhr er mit dem nächsten Zug eine Station weiter nach St-Placide, für den Fall, dass Louise nur ausgestiegen wäre und sich nicht vom Fleck gerührt hätte. Dann kehrte er zurück nach Saint-Germain-des-Près, um nachzusehen, ob Louise dort nach ihm suchte, und dann wiederum nach Saint-Sulpice und von dort ein zweites Mal nach St-Placide.
     
    Nach sechzehn solcher Fahrten sah Léon ein, dass er auf diese Weise Louise niemals finden würde. Er war verschwitzt und erschöpft, sein Anzug war ihm zu eng, und aus der Schachtel mit den Erdbeertörtchen, die auf ihrer stundenlangen Odyssee zwischen den immergleichen drei Métrostationen im Gedränge erheblich gelitten hatte, lief rosa und fahlgelb Erdbeersaft und Vanillecreme aus. Langsam ging er unter den herbstlich goldenen Platanen den Boulevard Saint-Michel hinauf und blinzelte ins Licht der Autoscheinwerfer, das sich auf dem nassen Kopfsteinpflaster spiegelte.
    Er fühlte sich, als sei er nach unruhigem Schlaf aus einem wirren Traum erwacht, und wunderte sich, dass er den halben Abend in der Métro nach einem Mädchen hatte jagen können, das er zehn Jahre nicht gesehen hatte und das mit größter Wahrscheinlichkeit lange tot war. Gewiss hatte die junge Frau Louise erstaunlich ähnlich gesehen, und tatsächlich hatte sie ihm ein Lächeln geschenkt, als würde sie ihn wiedererkennen. Aber wie viele junge Frauen mit grünen Augen gab es in Paris – hunderttausend? Und wenn jede Zehnte eine Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen hatte und von diesen jede Fünfzigste sich das Haar eigenhändig absäbelte, konnte es dann nicht sein, dass von diesen zweihundert die eine oder andere am Ende eines angenehm verlaufenen Arbeitstags auf dem Heimweg in der Métro einem Unbekannten, der seinen Hut schwenkte wie ein Clown, aus reiner Freundlichkeit ein Lächeln schenkte?
    Léon war nun sicher, dass er einem Phantom hinterhergerannt war – einem Phantom allerdings, das ihn seit zehn Jahren treu begleitete. Es war sein heimliches Laster, dass er oft frühmorgens schon beim Aufstehen Louises Bild vor Augen hatte, wie sie an einer Platane lehnte und auf ihn wartete, und nachmittags, wenn die Stunden im Labor zäh verrannen, verschaffte er sich selbst Unterhaltung mit Erinnerungen an jenes eine Wochenende in Le Tréport; abends schließlich, wenn er einsam auf seiner Seite des Ehebetts lag, half er sich in den Schlaf, indem er an seine erste Begegnung mit Louise und ihrem quietschenden Fahrrad dachte.
     
    Leise drehte er den Hausschlüssel im Schloss, sachte stieß er die Tür hinter sich zu; nur selten gelang es ihm, unbemerkt an der Loge der Concierge

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