Léon und Louise: Roman (German Edition)
gemocht. Sie war eine Heilige, jawohl, das war sie. Léon, bist du noch da?«
»Ja.«
»Du kommst jetzt heim, mein Augenstern, ja? Sieh zu, dass du es zum Abendessen schaffst, es gibt Ratatouille.«
Tatsächlich traf Léon rechtzeitig zum Abendessen am Bahnhof von Saint-Luc ein. Er ließ sich von Madame Josianne küssen und füttern und mit Kosenamen überschütten, dann kleidete sie ihn in frische Kleider und schimpfte ihn aus, weil er bleich und mager sei wie der Tod. Bahnhofsvorsteher Barthélemy seinerseits wollte, als Josianne in der Küche den Abwasch besorgte, Léons frische Narben sehen und alles wissen über das deutsche Kampfflugzeug an jenem Junimorgen, den Bombenkrater auf der Straße und die Rocklänge an den Uniformen der kanadischen Krankenschwestern.
Weil aber weder er noch Josianne etwas über Louise zu sagen wussten, entschuldigte sich Léon nach dem Kaffee und ging auf einen Spaziergang durch die Platanenallee, um die Quatschköpfe im Café du Commerce zu befragen. Als er das Lokal betrat, feierten sie ihn, als sei er von den Toten auferstanden, redeten und brüllten durcheinander und bestellten Lokalrunden Pernod, die hernach keiner bezahlen wollte; als er aber die Rede auf Louise brachte, wurden sie einsilbig, schauten beiseite und beschäftigten sich mit ihren Zigaretten und ihrem Pfeifentabak.
Auch der Bürgermeister, den Léon am nächsten Morgen im Rathaus aufsuchte, konnte ihm keine Auskunft geben. »Ich spreche im Namen der ganzen Stadt und des Kriegsministeriums, wenn ich dir sage, dass wir das Ableben der kleinen Louise zutiefst bedauern«, sagte er in seiner gewohnt staatsmännischen Manier, strich aber gleichzeitig ganz hausfraulich auf dem Schreibtisch mit beiden Händen eine inexistente Tischdecke glatt. »Das brave Mädchen hat viel für das Vaterland und die Hinterbliebenen unserer Kriegshelden geleistet.«
»Gewiss, Monsieur le Maire«, sagte Léon, dem das pompöse Getue des Alten schon auf die Nerven ging. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass er einen Hals wie ein Truthahn hatte und eine blau geäderte Nase wie sein Amtskollege in Cherbourg. »Aber weiß man denn mit Sicherheit …«
»Leider Gottes, mein Sohn«, sagte der Bürgermeister, dem das Interesse des Jungen an seiner kleinen Louise fehl am Platz schien, »sprechen die Fakten eine deutliche Sprache, jeder Zweifel ist ausgeschlossen.«
»Hat man denn … ihren Körper gefunden?«
Der Bürgermeister versank in seinem Sessel und schnaufte vernehmlich aus, teils aus Trauer um die runden Brüste der kleinen Louise, teils aus Ärger über die Hartnäckigkeit des jungen Spundes und aus Eifersucht darüber, dass er sein zärtliches Andenken mit diesem teilen musste.
»Du sollst nicht hadern, mein Kleiner.«
»Hat man ihren Körper gefunden, Monsieur le Maire?«
»Wir selbst haben bis zuletzt gehofft …«
»Hat man Louises Körper gefunden, Monsieur le Maire?«
»Ich will nicht annehmen, dass du mein Wort in Zweifel ziehst«, entgegnete der Bürgermeister mit ungewollter Schärfe. Und um den Jungen zum Schweigen zu bringen und endgültig zu besiegen, eröffnete er ihm aus einer Eingebung heraus, dass man von der kleinen Louise eingesammelt habe, was man von ihr in weitem Umkreis um ihre Tasche habe finden können, und dass man ihre Überreste laut Mitteilung des Kriegsministeriums in einem anonymen Massengrab bestattet habe.
»Ich danke Ihnen, Monsieur le Maire«, flüsterte Léon. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, und seine eben noch sprungbereit angespannte Gestalt war in sich zusammengesunken. »Weiß man denn, wo sich das Grab …«
»Leider nein«, sagte der Bürgermeister, der nun Mitleid hatte mit dem Jungen und sich seines schändlichen Triumphs bereits schämte. Zwar hatte er für sein Empfinden nicht eigentlich gelogen, sondern nur eine an Gewissheit grenzende Vermutung als verbürgte Tatsache ausgegeben; weil er aber im Grunde seines Wesens ein aufrichtiger Mensch war, hätte er viel darum gegeben, die Worte, die ihm entschlüpft waren, wieder einfangen zu können. Nun versuchte er zu retten, was zu retten war.
»Im Krieg geht vieles drunter und drüber, verstehst du? Kopf hoch, sage ich immer. Vergessen wir, was war, und schauen vorwärts, das Leben muss weitergehen. Was hast du nun vor, wo gehst du hin?«
Léon antwortete nicht.
»Deine Stelle am Bahnhof hat man ja wieder besetzen müssen, das wirst du verstehen. Brauchst du etwas Neues, kann ich dir behilflich sein?«
Léon stand auf
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