Léon und Louise: Roman (German Edition)
vor sich herschob, und ging im Strom der Menschen mit, der sich auf die Bahnsteigkante zubewegte. Vor ein paar Jahren, als er noch ledig gewesen und in einem kleinen Mansardenzimmer in den Batignolles gewohnt hatte, war er täglich mit der Métro zur Arbeit gefahren und hatte das Kreischen der Stahlräder, die Hitze und den Gestank in den Waggons, die fleckigen Polster, die glitschigfeuchten Lattenböden und die schmierigen Haltestangen hassen gelernt.
Damals hatte er sich die überlebenswichtige Geschmeidigkeit des routinierten Pendlers angeeignet, der in der dichtesten Menschenmenge ohne Drängeln und Rempeln seinen Weg findet und dem Nebenmann stets höflich den Vortritt lässt, ohne dabei zu erkennen zu geben, dass er ihn überhaupt bemerkt hat. Léon wusste, dass er von seinen Mitreisenden dieselbe in sich gekehrte Aufmerksamkeit erwarten konnte und dass es zu Drängeleien, Rempeleien und Beschimpfungen eigentlich nur kam, wenn eine größere Zahl Touristen oder ältere Herrschaften in der Nähe waren.
Er überließ seinem rechten Nebenmann den Vortritt und trat dafür in die hinter diesem entstehende Lücke, machte Platz für eine Frau mit Kinderwagen und gelangte in ihrer Heckwelle zur Schiebetür, dann mit zwei, drei Ausfallschritten zur Ecke an der gegenüberliegenden Schiebetür, wo ein ordentlicher Stehplatz frei war. Er knöpfte seinen Mantel auf und schob den Hut in den Nacken, lehnte sich, um sich an keiner Haltestange festhalten zu müssen, in die Ecke und vergrub die Hände in den Manteltaschen. Während der freie Raum vor ihm sich rasch füllte, vergewisserte er sich nach Pendlerart mit einem Rundumblick unter Vermeidung jedes Augenkontakts, dass ihm von keiner Seite Ärger drohte.
Dann fuhr der Zug an, und Léon betrachtete durchs Fenster die wartenden Fahrgäste auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig, dann das Wippen der Stromkabel an der schwarzbraunen Tunnelwand, das Vorüberhuschen der roten und weißen Signallaternen und die schwarz gähnenden Seitenstollen. An der nächsten Station wurde es wieder hell und dann wieder dunkel, und als es wiederum hell wurde, stieg er aus und kletterte ans Tageslicht, kaufte seine Erdbeertörtchen und kehrte sofort zurück in den Untergrund, wo gerade ein Zug zurück in Richtung Porte de Clignancourt einfuhr.
Léon ließ sich im Strom der Reisenden über den Bahnsteig in einen Wagen treiben bis in dieselbe Ecke an der gegenüberliegenden Tür, in der er auf der Hinfahrt gestanden hatte, und als auf dem Nebengleis ein Zug einfuhr, betrachtete er die vorüberziehenden Passagiere – die Männer mit ihren Zeitungen, die Kriegsversehrten mit ihren Krücken, die Frauen mit ihren Einkaufskörben. Erst waren es undeutliche, verwischte Gestalten, die an ihm vorbeihuschten, dann wurden sie langsamer und erhielten deutliche Konturen, und als der Zug schließlich still stand, bemerkte er in der Ecke neben der Schiebetür – nur einen Meter, vielleicht anderthalb von ihm entfernt – eine junge Frau.
Sie trug einen schwarzen Mantel, einen schwarzen Rock und eine hellblaue Bluse, sie hatte grüne Augen, Sommersprossen und dichtes dunkles Haar, das am Hinterkopf von einem Ohrläppchen zum anderen durchgehend auf gleicher Höhe abgesäbelt war, und sie hatte einen großen Mund und ein zartes Kinn, und sie rauchte eine Zigarette, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt wie ein Straßenjunge, und sie war, davon war Léon von der ersten Sekunde an überzeugt, ganz eindeutig seine Louise.
Natürlich hatte sie sich verändert in den zehn Jahren, die seither vergangen waren; aus den noch kindlich weichen Gesichtszügen des jungen Mädchens waren schärfer und bestimmter die Züge einer erwachsenen Frau hervorgetreten. Unter ihren feinen, geraden Brauen schauten wache, unbestechlich aufmerksame Augen hervor, und die Mundwinkel hatten einen Zug von Entschlossenheit, der ihm neu war. Und als sie mit den Fingerspitzen der rechten Hand eine Haarsträhne hinters Ohr strich, blitzten lackierte Fingernägel auf.
Endlich löste Léon sich aus seiner Erstarrung, hob die Hand und winkte. Er trat einen Schritt vor, um sich in ihr Blickfeld zu schieben, und klopfte unsinnigerweise gegen die Scheibe. Aber sie, nur durch einen Meter Luft und zweimal fünfzehn Millimeter Fensterglas von ihm getrennt, zog an ihrer Zigarette und blies den Rauch zu Boden, schnippte die Asche ab und schaute ins Leere. Er rüttelte an der verschlossenen Tür, die ihn von Louises Tür trennte, und versuchte
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