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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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wünschte ich, du würdest nur einmal, ein einziges Mal die Beherrschung verlieren – mich und das Kind schlagen, dich betrinken, die Nacht bei einer Prostituierten verbringen.«
    »Du wünschst dir Dinge, die du nicht willst, Yvonne.«
    »Sag mir, weshalb behandelst du mich, als wäre ich deine Mutter?«
    »Wie meinst du das?«
    »Wieso umarmst du mich nie, und weshalb liegst du nachts seit Wochen ganz außen am äußersten Bettrand?«
    »Weil du, wenn ich dich küsse, zusammenzuckst. Weil du, wenn ich dir das Haar streichle, in Tränen ausbrichst und mich einen Heuchler nennst. Weil du mich im Bett einen triebhaften Schimpansen geschimpft hast und verlangtest, dass ich dich in Ruhe lasse. Das habe ich getan, und jetzt brichst du gerade deshalb in Tränen aus. Sag mir, was ich tun soll.«
    Yvonne lachte auf und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. »Du hast es wirklich nicht leicht, mein armer Léon. Wir wollen uns nicht mehr zanken, ja? Aber wir wollen einander auch nicht belügen und uns nichts vorspielen. Lass uns offen reden. Was ich will, kann ich nicht von dir verlangen, und was du willst, kann ich dir nicht geben.«
    »Das ist Unsinn, Yvonne. Du bist meine Frau, und du bist mir eine gute Frau. Ich bin dein Mann und gebe mir Mühe, dir ein guter Mann zu sein. Das allein zählt. Alles Weitere wird sich finden.«
    »Nein, das wird sich nicht finden, das weißt du besser als ich. Was nun mal nicht ist, findet sich nicht. Man kann sich wohl Mühe geben, aber für seine Wünsche kann man nichts.«
    »Was wünschst du dir denn? Sag es mir.«
    »Lass gut sein, Léon. Ich kann nicht von dir verlangen, was ich mir wünsche, und ich kann dir nicht geben, was du dir wünschst. Wir kommen ganz gut zurecht und machen einander das Leben nicht zur Hölle, aber wirklich zusammen sind wir nicht. Damit müssen wir leben bis zum Ende.«
    »Was sprichst du vom Tod, Yvonne, wir sind erst achtundzwanzig.«
    »Willst du die Scheidung? Sag’s mir, willst du die Scheidung?«
    So ging das immerzu. Es war für sie beide geradezu eine Erleichterung gewesen, als auf Yvonnes abendliche Gefühlsausbrüche Anfälle morgendlicher Übelkeit folgten; nach dem Besuch beim Gynäkologen war sie kleinlaut und voller Reue gewesen, hatte Léon um Verzeihung gebeten, verwundert ihren Bauch betrachtet und die Vermutung geäußert, dass dieses Kind wohl ein Mädchen sei; denn den kleinen Michel, daran erinnerte sie sich deutlich, hatte sie drei Jahre zuvor ausgetragen in einer Stimmung selbstgenügsamer, in sich selbst hineinlauschender Zufriedenheit, die übrigens zu Léons Gunsten gewürzt gewesen war mit häufigen Anfällen animalischer Lüsternheit, die sie an sich selbst zuvor nicht gekannt hatte.
    Dass von animalischer Lüsternheit diesmal keine Rede sein konnte, trug Léon mit Fassung. Er war zu einem Mann von einiger Lebenserfahrung herangewachsen, und nach fünf Jahren Ehe war ihm bekannt, dass die Seele einer Frau auf geheimnisvolle Weise in Verbindung steht mit den Wanderungen der Gestirne, dem Wechselspiel der Gezeiten und den Zyklen ihres weiblichen Körpers, möglicherweise auch mit unterirdischen Vulkanströmen, den Flugbahnen der Zugvögel und dem Fahrplan der französischen Staatsbahnen, eventuell sogar mit den Förderquoten auf den Ölfeldern von Baku, den Herzfrequenzen der Kolibris am Amazonas und den Gesängen der Pottwale unter dem Packeis der Antarktis.
    Trotzdem überstiegen die ständig wiederkehrenden Dramen, in denen es, bei Lichte betrachtet, um wenig oder nichts ging, allmählich seine Kräfte. Zwar wusste er um die Flüchtigkeit ihrer Launen und dass es seinem Eheglück förderlich war, wenn er diese Anfälle temporärer Unzurechnungsfähigkeit gelegentlich überhören oder rasch wieder vergessen konnte. »Man darf ihnen das nicht übelnehmen«, hatte sein Vater ihm einmal eingeschärft, als er ihn in einem Augenblick der Not telefonisch um Rat gebeten hatte. »Sie können nichts dafür, es ist wie eine milde Art von Epilepsie, verstehst du?«
    Allerdings widerstrebte es Léon, ein zentrales Wesensmerkmal seiner Frau als chronische Krankheit zu interpretieren. Hatte er nicht die Pflicht, die Nöte seiner Gefährtin ernst zu nehmen? Durfte er, da er vor dem Traualtar geschworen hatte, sie zu ehren und zu lieben bis ans Ende seiner Tage, die Seelenqualen seiner Frau gering schätzen als bloßes Echo von Walfischgesängen?
     
    Léon hielt die Nase in den süßlichwarmen Wind, den der einfahrende Zug

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