Léon und Louise: Roman (German Edition)
Trichterrand stehen blieb. Zwei Sanitäter, die ein ulkiges Französisch sprachen und sich als Kanadier herausstellten, hoben Léon mit routinierten Handgriffen aus dem Schlamm, legten ihm einen Druckverband um den Bauch und betteten ihn auf die Ladebrücke zwischen zwölf verwundete Soldaten.
»Warten Sie«, rief Léon und packte den einen Sanitäter am Ärmel. »Dort vorne liegt noch jemand.«
»Wo denn?«, fragte der Soldat.
»Auf der Straße. Hinter dem Hügel.«
»Da sind wir eben hergekommen. Dort ist keiner.«
»Ein Mädchen.« Léon keuchte, das Sprechen fiel ihm schwer.
»Ach ja? Eine Blondine oder eine Brünette? Ich mag Rothaarige. Ist’s eine Rothaarige?«
»Mit einem Fahrrad.«
»Hat sie hübsche Beine? Und die Möpse, was hat sie für Möpse, Kamerad? Ich mag die milchig weißen Möpse der Rothaarigen. Besonders, wenn sie nach außen schielen.«
»Ihr Name ist Louise.«
»Wie ist ihr Name, was sagst du? Sprich lauter, Kamerad, ich kann dich nicht verstehen!«
»Louise.«
»Hör zu, dort liegt keine Louise, die wäre mir aufgefallen. Ganz bestimmt wäre mir eine Louise aufgefallen, verflucht nochmal, da kannst du dich drauf verlassen. Wo sie doch so hübsche Möpse hat.«
»Auch kein Fahrrad?«
»Was für ein Fahrrad – deins, das da? Das ist hinüber, Kamerad.«
»Das Mädchen war mit einem Fahrrad unterwegs.«
»Die rote Louise? Mit den schielenden Möpsen?«
Léon schloss die Augen und nickte.
»Dort hinter dem Hügel? Tut mir leid, da ist nichts. Keine Möpse, kein Fahrrad.«
»Bitte«, hauchte Léon.
»Wenn ich es doch sage«, sagte der Sanitäter.
»Ich bitte Sie.«
»Verfluchte Scheiße. Na gut, ich schau nochmal nach.«
Der Sanitäter gab dem Fahrer ein Zeichen und ging zu Fuß zurück hinter die Hügelkuppe. Fünf Minuten später kam er wieder.
»Ich sag’s doch, da liegt nichts«, sagte der Soldat.
»Wirklich nicht?«
»Ein kaputtes Fahrrad liegt da.« Der Soldat lachte und öffnete die Beifahrertür. »Aber weder Möpse noch Möse. Leider.«
Dann kehrte der Transporter, der keine Federung und keine Kupplung zu haben schien, in endlos langer Fahrt ausgerechnet zurück nach Le Tréport ins kanadische Militärhospital. Die zwei Sanitäter trugen ihre dreizehn menschlichen Frachtstücke eins ums andere in die Notaufnahme, und wenig später wurde Léon im Operationszelt unter Lachgas gesetzt von einem blutverschmierten und schweigsamen Arzt, der ihm die zwei Maschinengewehrkugeln mit raschen, großzügigen Schnitten aus dem Leib holte und anschließend seinen Bauch mit raschen, großzügigen Stichen wieder zunähte. Wie er später erfahren sollte, war das eine Projektil in seinem rechten Lungenflügel stecken geblieben, das andere hatte ihm zwei Löcher in die Magenwand geschlagen und war am linken Beckenknochen zum Stillstand gekommen.
Da er viel Blut verloren hatte und die Operationsnarbe dreißig Zentimeter lang war, musste er mehrere Wochen im Lazarett bleiben. Nach dem Aufwachen aus der Narkose war sein erster Anblick von dieser Welt das freundliche, runde und sommersprossige Gesicht einer Pflegerin, die mit gerunzelter Stirn auf die Uhr schaute, ihre Fingerkuppen auf sein Handgelenk presste und stumm die Lippen bewegte.
»Verzeihung, Mademoiselle, ist hier vielleicht ein Mädchen eingeliefert worden?«
»Ein Mädchen?«
»Louise? Grüne Augen, kurzes schwarzes Haar?«
Die Pflegerin lachte auf, schüttelte ihre Locken und rief einen Arzt herbei. Da auch er den Kopf schüttelte, befragte Léon im Lauf des Tages sämtliche Pflegerinnen, Sanitäter, Ärzte und Patienten, die an seinem Bett vorüberzogen, und da alle nur lachten und niemand ihm Auskunft geben konnte, schrieb er am Abend drei Briefe nach Saint-Luc-sur-Marne: einen an den Bürgermeister, einen an den Bahnhofsvorsteher Barthélemy und einen an den Wirt des Café du Commerce . Und obwohl er wusste, dass die Feldpost langsam arbeitete und er mit Antwort erst nach Wochen oder Monaten rechnen konnte, ließ er schon am nächsten Morgen bei der Lazarettverwaltung nachfragen, ob Post für ihn angekommen sei.
Drei Wochen nach der Operation konnte er erstmals allein aufstehen; weitere drei Wochen später, es war schon Mitte Juli, unternahm er einen ersten kurzatmigen Spaziergang zu den Klippen. Er ging an der schroffen Kante den hundert Meter tiefer liegenden Strand entlang, setzte sich am westlichen Ende ins Gras und schaute hinunter auf die schwarzen Muschelbänke, die Überreste der Feuerstelle und auf
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