Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
Vom Netzwerk:
Gewissheiten brauche ich nicht. Ich renne nicht anderen Frauen hinterher, das solltest du wissen.«
    »Weil du mit mir verheiratet bist?«
    »Weil ich dein Mann bin und du meine Frau bist.«
    »Du willst nichts Falsches tun, das ehrt dich, Léon. Trotzdem wird dich die Frage quälen, solange du ihr nicht auf den Grund gegangen bist. Das will ich nicht mit ansehen, und ich will es vor allem mir selbst nicht antun. Du musst das Mädchen suchen, ich befehle es dir.«
     
    Am nächsten Morgen kämpfte Léon auf dem Weg zur Arbeit gegen seinen Wunsch, mit der Métro auf gut Glück ein paarmal hin und her zu fahren. An der Place Saint-Michel gab er den Kampf auf und stieg unter der gusseisernen Jugendstilleuchte in den Untergrund. In der folgenden Stunde begegnete er unter Tag einer großen Zahl Menschen jeden Alters, jeder Hautfarbe, jeder Größe und beiderlei Geschlechts, zudem ein paar Hunden, einer Katze in einem Weidenkäfig und sogar einem Bauern mit trüben gelben Hundeaugen und zwei lebenden Schafen, der wohl seinen Karren an der Porte de Chatillon abgestellt hatte und nun unterirdisch zu den Markthallen fuhr. Aber ein Mädchen mit grünen Augen sah er nicht.
    Dass er zu spät zur Arbeit kam, bemerkte niemand. Das chemische Labor der Police Judiciaire befand sich in der vierten Etage des Quai des Orfèvres hoch über den Büros des Kommissariats, in dem rund um die Uhr geschrien, geheult und geflucht wurde. In Léons Abteilung hingegen herrschte Ruhe. Es roch nicht nach regennassen Polizistenmänteln und nicht nach dem Angstschweiß der Verhörten, nicht nach Bier und nicht nach Sauerkraut, nicht nach den Sandwichs und den Zigaretten der Reporter, die im Flur auf Neuigkeiten warteten; hier roch es nach Chlor, Javelwasser, Äther und Aceton. Im Labor gab es viel Messing und Glas und Mahagoni, und die Beamten arbeiteten in weißen Chemikermänteln still und konzentriert zum Zischen der Bunsenbrenner.
    Sie gingen auf leisen Sohlen und unterhielten sich im Flüsterton, und wenn es einem ungeschickten Praktikanten passierte, dass er mit zwei Erlenmeyerkolben oder Reagenzgläsern gegeneinanderstieß, hoben die Kollegen verärgert die Brauen. Hier siezten die Vorgesetzten ihre Untergebenen und erteilten ihre Befehle höflich in Frageform, und jeder bereitete seinen Pausenkaffee selber zu, und keinem wäre es eingefallen, das Zuspätkommen eines Kollegen überhaupt zu bemerken.
    Zehn Jahre war es her, dass Léon in der Fernmeldezentrale der Police Judiciaire eingetroffen war, die sich zwei Stockwerke unter dem Labor und eine Etage über dem Kommissariat befand. In den ersten Wochen hatte er es schwer gehabt, seiner Funktion als Morsespezialist gerecht zu werden, denn hier zählte nur die Leistung, und er konnte, um seine Inkompetenz zu kaschieren, auf keine schicke Eisenbahneruniform und keine rote Fahne zurückgreifen. So war von der ersten Arbeitsstunde an unbestreitbar zutage getreten, dass er vom Morsen keine Ahnung hatte, und Léon hatte dies gegenüber seinen Vorgesetzten mühevoll mit vagen Hinweisen auf langjährige Arbeitsabstinenz infolge Kriegsdienst und Rekonvaleszenz nach Verwundung an der Front gerechtfertigt; einmal hatte er sogar das Hemd aus der Hose gerissen und seine vernarbten Schusswunden gezeigt.
    Weil er aber bei der Arbeit großen Fleiß an den Tag legte und abends in seinem Mansardenzimmer in den Batignolles bis spät nach Mitternacht die offiziellen Handbücher der französischen und der internationalen Fernmeldegesellschaften studierte, hatte er sein Handicap bald aufgeholt und galt schon nach wenigen Monaten als vollwertiger Fernmeldespezialist.
    Allerdings musste er in der Folge feststellen, dass die Morserei, wenn man sie erst einmal beherrschte, eine recht einförmige Angelegenheit ohne Aussicht auf nennenswerte Abwechslung war. Zu seinem Glück hatte ihn nach drei Jahren der Vizedirektor des Wissenschaftlichen Dienstes, mit dem er gelegentlich Mittagessen ging, vom Morsedienst befreit, indem er ihm eine Assistentenstelle im neu eingerichteten chemischen Labor besorgte.
    Zwar war der Stellenwechsel für Léon gleichbedeutend mit der erneuten Rückkehr in den Zustand kompletter Inkompetenz gewesen, denn schon am Gymnasium war er in Chemie wegen totalen Desinteresses der schwächste Schüler seiner Klasse gewesen; und in den Jahren, die seither vergangen waren, hatte er auch die rudimentären Kenntnisse, die gegen seinen Willen an ihm hängen geblieben waren, restlos vergessen.
    Mit seiner

Weitere Kostenlose Bücher