Léon und Louise: Roman (German Edition)
mir denn zustoßen. Ich muss mich beeilen.«
»Natürlich, Madame erwartet Sie, und ich halte Sie hier auf mit Scherzen über Rindsleber.«
»Oh, das dürfen Sie nicht sagen, Madame Rossetos. Rindsleber in Rotweinsauce ist kein Scherz. Das ist eine sehr ernsthafte Sache. Besonders wenn noch Bratkartoffeln mit Rosmarin im Spiel sind.«
»Wie schön Sie das sagen, Monsieur Le Gall! Sie sind ein Mann mit Kultur, das sage ich immer. Sie wollen bestimmt nicht kosten? Nur ganz rasch?«
»Das klingt verlockend, aber …«
»Madame hat Ihnen natürlich Abendessen zubereitet. Und ich halte Sie auf mit meinem Geplauder.«
»Ein anderes Mal gern.«
»Sie ist gewiss schon in Sorge.«
»Ich sollte jetzt los.«
»Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen, beste Grüße an Madame!«
9. KAPITEL
Léon stieg mit seinen Erdbeertörtchen ins dritte Stockwerk hinauf. Die Treppe war frisch gewienert, der Läufer staubfrei und leuchtend rot, die Messingstangen glänzten. Er sog den Duft von Bohnerwachs ein, der ihm ein Gefühl von Ruhe, Beständigkeit und Heimat vermittelte, und lauschte dem Rauschen der Rohre im Treppenhaus und den kleinen Geräuschen aus den Nachbarswohnungen, die ihm ein Gefühl von Zugehörigkeit und Geborgenheit gaben.
Vor seiner Tür blieb er stehen. Was er da hörte, war seine Frau Yvonne, die mit ihrer hellen, ein bisschen heiseren Jungmädchenstimme eine Ballade sang. »Si j’étais à ta place, si tu prenais la mienne …« Léon wartete, bis der Gesang verstummte, dann öffnete er die Tür. Yvonne stand im Flur in einem hellen Sommerrock, der viel zu leicht war für die Jahreszeit, und arrangierte einen Strauß Astern in einer Vase. Sie wandte sich nach ihm um und lächelte.
»Endlich bist du da! Das Abendessen steht auf dem Tisch. Der Kleine schläft schon. Ich habe mit dem Essen auf dich gewartet und eine Flasche Wein aufgemacht.«
Sie nahm ihm den Teller mit den Erdbeertörtchen ab und lachte über deren traurigen Zustand, schickte ihren Mann mit gespielter Strenge zum Händewaschen und zupfte mit einem raschen Seitenblick in den Spiegel ihre Frisur zurecht. Léon wunderte sich; das war nicht das verzweifelte, in Gefangenschaft zerquälte Wesen, das er am Morgen zurückgelassen hatte, sondern das singende und lachende junge Mädchen, in das er einst verliebt gewesen war.
»Komisch siehst du aus«, sagte sie nach dem Essen, nachdem sie in den Salon umgezogen waren, um Kaffee und die zertrümmerten Erdbeertörtchen zu sich zu nehmen. »Ist etwas passiert?«
»Ich bin nach Saint-Sulpice gefahren und habe Erdbeertörtchen geholt.«
»Ich weiß, das war sehr nett von dir. Dafür hast du aber lange gebraucht, nicht wahr?«
»Ja.«
»Mehr als zwei Stunden. Bist du aufgehalten worden?«
»Ich habe dieses Mädchen getroffen.«
»Was für ein Mädchen?«
»Ich bin nicht sicher.«
»Du bist nicht sicher? Du triffst ein Mädchen, bist aber nicht sicher und verspätest dich um zwei Stunden?«
»Ja.«
»Mein Lieber, das klingt, als hätten wir etwas zu besprechen.«
»Ich glaube, es war Louise.«
»Welche Louise?«
»Die kleine Louise aus Saint-Luc-sur-Marne, du weißt schon.«
»Das tote Mädchen?«
Léon nickte, und dann berichtete er seiner Ehefrau in allen Einzelheiten von der Begegnung in der Métro, seiner Irrfahrt durch den immergleichen Tunnel, von seinen Zweifeln auf dem Heimweg und von den Zweifeln, die ihm an seinen Zweifeln gekommen waren. Zum Schluss berichtete er auch von seinem Besuch bei der Concierge und vom anschließenden Treppensteigen, bei dem ihm Tränen in die Augen gestiegen waren aus Mitleid mit Madame Rossetos, aber auch aus Mitleid mit sich selbst und mit der ganzen Welt.
Als er geendet hatte, stand Yvonne auf und trat ans Fenster, schob die Gardine beiseite und schaute hinunter auf die nächtlich stille Straße.
»Das haben wir beide immer gewusst, dass so etwas eines Tages geschehen würde, nicht wahr?« Ihre Stimme war heiter, um ihre Lippen spielte ein Lächeln, und ihre Gestalt wurde umspielt vom Widerschein der Straßenlaterne, die vor dem Haus im Regen stand. »Du wirst das tote Mädchen suchen, du musst Gewissheit haben.«
»Das Mädchen gibt es nicht mehr, Yvonne, so oder so. Es ist viel Zeit vergangen seither.«
»Trotzdem wirst du sie suchen.«
»Nein, das werde ich nicht tun.«
»Irgendwann wirst du sie suchen. Du wirst nicht leben können ohne Gewissheit.«
»Die Gewissheiten, die ich habe, reichen mir«, erwiderte er. »Weitere
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