Léon und Louise: Roman (German Edition)
vorbeizukommen, die ihm seit Jahren zärtlich zugetan war, weil er für ihre zwei Töchter, als sie noch klein gewesen waren, zu Weihnachten kleine Löwen, Giraffen und Flusspferde aus Holzwolle und Stoffresten angefertigt hatte. Der Vorhang hinter der Loge war zugezogen, durch den Türspalt drang das Brutzeln von Fett und der Geruch gedünsteter Zwiebeln. Auf Zehenspitzen ging er an der Glastür vorbei, erreichte den Fuß der Treppe und wähnte sich schon in Sicherheit – da ging die Tür auf, und heraus kam Madame Rossetos in ihrem schwarzen Witwenrock, ihrer schwarzen Witwenhaube und ihrer blau geblümten Küchenschürze.
»Monsieur Le Gall, haben Sie mich erschreckt! Sich so ins Haus zu schleichen wie ein Verbrecher, um diese Uhrzeit!«
»Verzeihen Sie, Madame Rossetos.«
»Sie sind spät dran heute – Ihnen ist doch nichts zugestoßen?« Die Concierge streckte ihm ihre Nasenspitze entgegen, als würde sie Witterung aufnehmen.
»Aber nein, was soll mir denn zustoßen.«
»Sie sind blass, Monsieur, Sie sehen zum Fürchten aus. Und was haben Sie da Scheußliches in der Hand? Geben Sie mir das. Na los, geben Sie’s her, keine Widerrede, ich bringe das in Ordnung.«
Die Frau schnellte vor und nahm Léon den Karton aus der Hand, dann kehrte sie rückwärts in ihr gläsernes Kabuff zurück und behielt ihn dabei im Auge wie eine Muräne, die sich mit ihrer Beute ins Korallenriff zurückzieht. Léon sah keine andere Möglichkeit, als ihr hinter die Glastür zu folgen. Er ging hinein in den Zwiebeldunst und schaute ihr zu, wie sie den Karton auf den Küchentisch stellte, die ramponierten Erdbeertörtchen herausnahm und auf einen geblümten Teller legte, sie mit ihren geschwollenen Fingern eifrig zurechtdrückte und die heruntergefallenen Erdbeeren wieder auf die Vanillecreme türmte. Er roch den Zwiebelduft ihrer Wohnhöhle und den süßsauren Schweißgeruch ihres Rockes über dem runden Leib, betrachtete das Rot ihres Lippenstifts, der in die Kummerfalten ihrer Lippen ausgeströmt war, die grellbunte Madonnenstatuette auf dem Hausaltärchen und die brennende Kerze vor dem kolorierten Portrait ihres Ehemanns in Sergeantenuniform, dann die Spitzendecke auf dem Polstersessel und die rußig-graue Ecke über dem Kohleofen, und er lauschte dem Kokeln des Kohleofens und dem konzentrierten Schnaufen aus Madame Rossetos’ geblähten Nüstern.
Ein schwerer Vorhang trennte den Wohnraum von der Schlafkammer, in der die zwei Mädchen in ihren quietschenden Eisenbetten unter dunkelroten Wolldecken dem nächsten Morgen entgegenschliefen und jede Nacht einen viertel Millimeter Körperlänge zulegten in der ruhigen Gewissheit, dass sie in nicht allzu ferner Zukunft zu kleinen Fräuleins erblühen und ihrer Mutter bei der erstbesten Gelegenheit für immer entwischen würden. Sie würden einem Galan folgen, der ihnen seidene Unterwäsche versprach, oder in die Dienste einer Dame treten, die sie als Zimmermädchen nach Neuilly mitnahm. Madame Rossetos aber würde allein zurückbleiben, noch eine Weile einsam in ihrem Kabuff dahinleben und auf die immer seltener werdenden Besuche ihrer Töchter warten, bis sie eines Tages an irgendetwas erkranken, sich ins Krankenhaus schleppen und wenig später nach einem letzten Blick auf die Wasserflecken an der Zimmerdecke widerstandslos und demütig aus dieser Welt verschwinden würde.
Die Concierge bestreute die Törtchen mit Puderzucker, um die schlimmsten Schäden zu kaschieren, wischte die Hände an ihrer Schürze ab und schaute zu ihm hoch mit einem Blick, in dem alle Arglosigkeit und Verletzlichkeit der gequälten Kreatur lagen.
»Hier bitte, Monsieur Le Gall, besser kriegen wir das nicht hin.«
»Ich danke Ihnen sehr.«
»Sie müssen jetzt gehen, Ihre Frau wartet auf Sie.«
»Ja.«
»Schon lange.«
»Tatsächlich.«
»Zwei Stunden. Sie sind sehr spät dran heute.«
»Ja.«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie jemals so spät heimgekommen sind. Madame macht sich bestimmt Sorgen.«
»Sie haben recht.«
»Hauptsache, es ist nichts passiert. Ich werde jetzt meine Rindsleber in die Pfanne geben. Ich esse selber immer erst, wenn die Kinder im Bett sind, dann habe ich meinen Frieden. Mögen Sie Rindsleber in Rotweinsauce, Monsieur Le Gall?«
»Sogar sehr.«
»Und Bratkartoffeln mit Rosmarin?«
»Dafür würde ich kilometerweit laufen.«
»Dabei haben Sie zu Hause alles, was Sie brauchen, Sie Glücklicher. Und Ihnen ist gewiss nichts zugestoßen?«
»Aber nein, was sollte
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