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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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bewährten Methode nicht einklagbaren Hochstaplertums aber gelang es ihm auch diesmal, seine Ahnungslosigkeit binnen nützlicher Frist zu beheben. Die Kollegen verziehen ihm seine anfängliche Unbeholfenheit auch deshalb, weil er jeden freundlich grüßte und keinem seine hierarchische Position streitig machte. In jenem Herbst 1928 schließlich, da das zweite Kind unterwegs war, gehörte er im Labor schon zu den Dienstältesten und war keinem mehr Rechenschaft schuldig. Die Chancen standen gut, dass er in ein paar Jahren zum stellvertretenden Abteilungsleiter ernannt werden würde.
    An jenem Morgen hatte er eine Probe Kartoffelgratin auf Arsenrückstände zu prüfen; ein Verfahren, das er gewiss schon hundertmal durchgeführt hatte. Er nahm die Schüssel mit dem angeblich vergifteten Gratin aus dem Eisschrank, löste eine Messerspitze in Wasserstoff auf und goss die Lösung über ein Stück Filtrierpapier, auf das er eine Natriumgoldchloridlösung aufgetragen hatte. Obwohl ihm jeder einzelne Handgriff durch vielfache Wiederholung vertraut war, behandelte er die Proben, von denen im langjährigen Durchschnitt immerhin jede zweite oder dritte tatsächlich Giftstoffe in gesundheitsschädigendem Maß enthielt, noch immer mit der gebotenen Vorsicht. Diesmal war der Befund negativ, das Natriumgoldchlorid verfärbte sich unter dem Einfluss der Kartoffellösung nicht violett, sondern behielt seine braune Farbe bei. Léon ging zum Spülbecken und wusch sein Geschirr, setzte sich an den Schreibtisch und tippte zuhanden des Untersuchungsrichters auf der schwarzgoldenen Remington einen Bericht mit drei Durchschlägen.
    In den ersten Jahren hatte er sich noch interessiert für die gebrochenen Liebesschwüre und die erkalteten Leidenschaften, die zu den vergifteten Kartoffelgratins und Schweinekoteletts geführt haben mochten, ebenso für die Geschichten von Habgier, Betrug und Vergeltung; er hatte sich die Verzweiflung der Giftmischerinnen vorzustellen versucht – es waren fast immer Frauen, die zu Rattengift griffen, Männern standen im Überlebenskampf andere Waffen zur Verfügung –, und er hatte das Gefühl erleichterter Enttäuschung jener Ehemänner nachzuempfinden versucht, die ihre Magenkrämpfe, Schwindelanfälle und Schweißausbrüche als Vergiftungssymptome missdeutet hatten; er hatte die zuständigen Kommissare im Erdgeschoss aufgesucht und im Flur mit ihnen geplaudert, um Einzelheiten in Erfahrung zu bringen über die Schicksale jener Menschen, die er, Léon Le Gall, mit seiner Pipetten- und Rührstabschwenkerei entweder in die Freiheit, in den Kerker oder aufs Schafott beförderte. Manchmal hatte er sogar inoffiziell und gegen den Rat seiner Kollegen die Tatorte aufgesucht oder sich die Wohnhäuser der Giftmischerinnen angesehen, hatte den Opfern im Leichenschauhaus seine Aufwartung gemacht und den Mörderinnen bei der Urteilsverkündung in die Augen geschaut.
    Mit der Zeit aber hatte er festgestellt, dass die allermeisten dieser Dramen einander auf entsetzlich banale Weise ähnelten und dass es letztlich die gleichen Geschichten von Raffgier, Grobheit und Blödheit des Herzens waren, die sich in geringfügiger Variation immer und immer wiederholten, weshalb er sich spätestens ab dem dritten Dienstjahr darauf beschränkte, im Namen des Gesetzes nach Arsen, Rattengift oder Zyankali zu suchen und alle Fragen nach Schuld, Sinn und Schicksal sowie Strafe, Sühne und Vergebung anderen zu überlassen – den Richtern in ihren würdigen Roben etwa oder dem Herrgott im Himmel oder dem kleinen Mann auf der Straße oder den Biertrinkern am Stammtisch. Zu dieser professionellen Haltung engagierter Resignation hatten ihm die erfahrenen Kollegen von Anfang an geraten.
    Immerhin konnte er die einfachen Fragen, um die er sich im Labor zu kümmern hatte – Arsen ja oder nein? Zyankali ja oder nein? –, in fast jedem Fall eindeutig, klar und erschöpfend beantworten; das empfand er als sehr angenehm. Und den moralischen Grundsatz, der seiner Arbeit zugrunde lag – dass es nicht gut sei, Menschen mit Gift vom Leben zum Tode zu befördern –, konnte er auch nach Jahren und zahllosen behandelten Fällen noch immer vorbehaltlos unterschreiben.
    So gesehen fand er den Sinn seiner Aufgabe – potenziellen Giftmörderinnen klarzumachen, dass sie vielleicht nicht ungeschoren davonkommen würden – noch immer gut und wichtig und richtig. Was den repetitiven Charakter seines Arbeitsalltags betraf, den Léon zuweilen nur schwer ertrug,

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