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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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Zug im Morgengrauen samt Lokomotive und zwanzig leeren Viehwagen die Gare de Lyon verließ und südwärts aus der Stadt hinausfuhr; das beständige Ruckeln und Zuckeln hielt ihn, der narkotisiert war vom Genuss mehrerer Liter preiswerten Rotweins, den ganzen Tag über im Tiefschlaf wie einen Säugling in der Wiege, während der Zug ohne Halt die endlosen Weiten der gesegneten französischen Provinz durchmaß. Der Clochard schlief, während der Zug das Burgund von Nord nach Süd durchquerte, und er schlief in den Weinbergen der Côte du Rhône, und er schlief, während der Zug in der Abenddämmerung an den Wildpferden der Provence vorüberfuhr, und er schlief im Languedoc und Roussillon und am Fuß der Pyrenäen und wachte erst am folgenden Morgen mit hölzernem Schädel und pelziger Zunge wieder auf, als sein Viehwagen schon eine ganze Weile stillstand und sich unter der Sonne des Südens kräftig aufgeheizt hatte.
    Der Clochard kroch aus dem Stroh und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß aus dem Gesicht, schob die Tür auf und erblickte, nachdem seine Augen sich ans gleißend helle Licht gewöhnt hatten, eine von Mensch und Vieh verlassene Rinderverladestation, hinter der sich bis zum Horizont hin eine flirrende Ebene erstreckte, die öd und kahl war bis auf ein paar vereinzelte Kakteen. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass er sich nicht mehr in Paris und auch nicht im Norden Frankreichs befand, sondern irgendwo sehr tief im Süden, und zwar ohne Geld und ohne Ausweis und mutmaßlich ohne Kenntnis der lokal geläufigen Landessprache.
    Getrieben von heftigen Kopfschmerzen und quälendem Durst, stieg er hinunter aufs Schotterbett und wanderte anderthalb Stunden die Gleise entlang in nordöstlicher Richtung, bis er an der nächsten Bahnstation anlangte, wo ihm ein barfüßiger Barrierenwärter in Operettenuniform in bruchstückhaftem Französisch eröffnete, dass er sich unweit von Pamplona am Ufer eines Flusses namens Arga befinde.
     
    Louise lachte. Dann kam das Essen.
    Über ihr gemeinsames Wochenende in Le Tréport zehn Jahre zuvor sprachen sie nicht mehr, auch nicht über die Nacht am Strand und den Bombenhagel am folgenden Morgen und ebenso wenig über die Jahre ihres Getrenntseins.
    Am frühen Abend, als sie noch im Bett gelegen hatten und im fahlen Licht der Straßenlaterne an ihren Körpern gegenseitig die Narben von Maschinengewehrkugeln, Bombensplittern und Chirurgenmessern ertastet hatten, hatte Louise ihm erzählt, dass ein Weinhändler aus Metz, der ebenfalls in den Bombenangriff geraten war, sie aufgelesen und in seiner Camionette nach Amiens ins Frauenhospital gebracht hatte, wo sie nach der Notoperation einen ganzen Monat lang bei den hoffnungslosen Fällen gelegen, dort eine Lungenentzündung sowie die Spanische Grippe erwischt hatte und erst ein halbes Jahr nach Kriegsende als halbwegs geheilt entlassen worden war.
    Sie war auf direktem Weg nach Saint-Luc-sur-Marne zurückgekehrt und hatte den Bürgermeister aufgesucht, und dieser hatte sie freudig begrüßt und ihr ohne Umschweife erzählt, dass Léon ein paar Monate zuvor ebenfalls vorbeigeschaut und erfreulicherweise einen recht gesunden Eindruck gemacht habe; in genau diesem Sessel, in dem Louise jetzt sitze, habe er gesessen und von seinem Unfall berichtet, aber dann sei er plötzlich aufgesprungen und auf Nimmerwiedersehen verschwunden.
    Als Louise den Bürgermeister fragte, ob er eventuell Léons Wohnadresse kenne, hatte dieser bedauernd mit den Schultern gezuckt, und als sie dann ihre Scham überwand und wissen wollte, ob Léon sich denn gar nicht nach ihr erkundigt habe, hatte der Bürgermeister ihr die Hand getätschelt, traurig den Kopf geschüttelt und eine tiefsinnige Bemerkung über die Leichtfüßigkeit der Jugend im Allgemeinen und die Treulosigkeit junger Männer im Besonderen gemacht.
    Als Léon nach dem Essen zwei Kaffee bestellte, schielte der Wirt demonstrativ zur Wanduhr, und nachdem er die Tassen gebracht hatte, machte er mit dem Portemonnaie die Runde durchs Lokal und stellte die freien Stühle mit den Beinen nach oben auf die Tische. Léon und Louise unterhielten sich leise und musterten einander aufmerksam, als ständen sie in schwierigen Verhandlungen über schwerwiegende Entscheide von größter Tragweite; dabei redeten sie nur über Kleinigkeiten und vermieden sorgsam alles Schwere, Bedeutsame.
    Erst berichtete Léon von dem gigantischen Zeppelin, der kürzlich am Quai des Orfèvres zum Anfassen nah an seinem

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