Léon und Louise: Roman (German Edition)
nicht, wie?« Sie öffnete seinen untersten Knopf und fuhr ihm mit der rechten Hand unters Hemd. »Du bist sehr zufrieden mit dir und hältst dich für einen tollen Hecht, nicht wahr?«
Léon nickte.
»Aber weißt du auch, du Beherrscher der Welt, wo bei einem Auto die Bremse ist?«
»Ich kann Gas geben, Licht machen und hupen. Bremsen will ich nicht können.«
»Aber ich. Drück auf die Bremse, du Krone der Schöpfung. Jetzt gleich, sofort. Rasch, mach schon. Runter vom Gas, dann Kupplung und jetzt der Schaltknüppel. Nein, nicht der, das ist die Handbremse, und jetzt bremsen, gleich neben dem Gaspedal. Fahr rechts ran. Na los, mach schon. Rasch.«
Während Léon noch mit Steuerrad, Kupplung und Bremse hantierte, küsste sie ihn und zerrte an seinen Kleidern, bis der Wagen schlingernd und unter Bocksprüngen zum Stillstand kam. Unter der Motorhaube zischte leise der Motor. In der Ferne rief ein Kauz. In der Talsenke vor dem Stadtrand lag eine Nebelbank. Sie holten zwei Wolldecken aus dem Kofferraum und gingen eng umschlungen zum Waldrand, wo sie sich in weichem Gras zwischen zwei Büschen im Mondschein liebten bis zum Morgengrauen.
12. KAPITEL
In den folgenden elf Jahren acht Monaten dreiundzwanzig Tagen vierzehn Stunden und achtzehn Minuten sahen und hörten Louise und Léon einander nicht wieder, und sie blieben ohne Nachricht voneinander. Léon Le Gall hielt sein verweigertes Versprechen und näherte sich nie, kein einziges Mal, der Banque de France, und er unternahm auch keine sinnlosen Métrofahrten und lungerte nicht unnötig auf dem Boulevard Saint-Michel herum.
Allerdings war es unumgänglich, dass er morgens zur Arbeit und abends wieder nach Hause ging, und unterwegs konnte er nicht die Augen zukneifen, sondern musste sie offen halten; so konnte es nicht ausbleiben, dass ihm gelegentlich, wenn er auf dem Boulevard Saint-Michel ein paar grüne Augen sah oder einen Nacken, über dem dunkles Haar von einem Ohr zum anderen abgesäbelt war, das Herz schneller schlug. Auch nach Jahren noch zuckte er zusammen, wenn ein Renault Torpedo um die Ecke bog oder wenn in der Métro eine weibliche Gestalt im Regenmantel Zigaretten rauchend in der Ecke stand.
Einmal verließ er während der Arbeitszeit das Labor, stieg hinauf unters Dach des Justizpalasts und fand im Gebälk, das schwarz war vom Staub der Jahrhunderte und weiß vom Gespinst der Spinnen, eine nach Nordwesten sich öffnende Luke. Er öffnete das blinde Fenster und stellte zu seiner Beruhigung fest, dass die Sicht in Richtung Banque de France über die Seine zwar frei, dann aber durch mehrere Häuserzeilen versperrt war.
Einmal, an einem Donnerstagabend auf dem Heimweg, war auf der Place Saint-Michel vor seinen Augen hinter dem kreisrunden Kiosk ein Schemen verschwunden, von dem er im Bruchteil einer Sekunde überzeugt gewesen war, dass es Louise sein musste. Er war zum Kiosk gelaufen und hatte ihn zweimal umrundet, hatte ringsum die vorübereilenden Menschen gemustert und dann den Kiosk in Gegenrichtung noch einmal umrundet – aber die Gestalt war auf rätselhafte Weise verschwunden geblieben, als sei sie in den Himmel entschwoben oder durch eine Geheimtür in den Untergrund versunken.
Nachts vor dem Einschlafen durchlebte Léon in Gedanken immer wieder die Autofahrten mit dem Torpedo, das Beisammensein mit Louise im Relais du midi und die letzten Stunden bis zum Morgengrauen an jenem Waldrand in Sichtweite des Eiffelturms. Verwundert stellte er fest, dass seine Erinnerungen im Lauf der Wochen, Monate und Jahre nicht verblassten, sondern im Gegenteil kräftiger und lebendiger wurden. Von Jahr zu Jahr heißer fühlte er ihre Lippen an seinem Hals, und immer stärker durchfuhr ihn der Schauer beim Gedanken daran, wie sie ihm »Fass mich da an, da« ins Ohr gewispert hatte; süßer als damals hatte er ihren Duft in der Nase, und in seinen Händen ganz gegenwärtig war die Empfindung ihres biegsamen, sehnigen, aber auch unnachgiebigen und fordernden Körpers, der so ganz anders war als die warme, weiche Nachgiebigkeit seiner Ehefrau; im Herzen bewahrte er die Empfindung, die er nur im Zusammensein mit Louise gehabt hatte – jenes Gefühl, ganz eins und im Reinen zu sein mit sich und der Welt und der Kürze der Zeit, die einem beschieden ist.
Tagsüber ging er gewissenhaft zur Arbeit, und abends scherzte er mit seiner Frau und war den Kindern ein zärtlicher Vater; aber im Grunde war er doch immer dann am lebendigsten, wenn er sich seinen
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