Léon und Louise: Roman (German Edition)
ich mich fürs Erste. Jetzt gib ein bisschen Gas, nur ein bisschen, ja, so, und jetzt runter vom Pedal und dann die Kupplung, siehst du, das ist der erste Gang, ich löse die Handbremse, und du gehst langsam runter von der Kupplung und gibst gleichzeitig sachte Gas, sachte, sachte …«
Nachdem sie den dritten Gang erreicht hatten, hielt Léon eine Reisegeschwindigkeit von fünfzig Stundenkilometern und fuhr in der Mitte der Landstraße durch die Nacht nordwärts, der Stadt entgegen. Er schaltete versuchsweise die Scheinwerfer aus und wieder ein, drückte die Hupe und hielt den linken Arm in den Fahrtwind hinaus; nur in engen Kurven griff Louise ins Steuerrad und half ihm beim Lenken, und wenn die Straße hügelan führte, packte sie den Schaltknüppel und legte einen kleineren Gang ein. Auf einer der letzten Hügelkuppen vor dem Stadtrand tauchte im Nordwesten glitzernd der mit Lichterketten behängte Eiffelturm auf, und im Nordosten zeigte sich über einem schwarzen Waldstreifen der Mond.
»Schau«, sagte Léon, »es ist genau Halbmond. Weißt du, was das bedeutet?«
»Was?«
»Das bedeutet, dass der Mond sich in diesem Augenblick an genau der Stelle im Sonnensystem befindet, an der wir uns vor vier Stunden befunden haben.«
»Was?«
»Der Planet Erde befand sich vor knapp vier Stunden an dem Ort, an dem sich jetzt der Mond befindet.«
»Wir waren vor vier Stunden dort oben?«
»Exakt dort oben …« – Léon warf einen Blick auf seine Armbanduhr – »… habe ich dir vor vier Stunden den letzten Knopf deiner Bluse abgerissen.«
Eine Weile fuhren sie schweigend durch die Nacht und betrachteten durch die Windschutzscheibe den Mond.
»Unterdessen ist er ein bisschen weiter vorgerückt«, sagte er. »Jetzt ist er an der Stelle, an der ich deinen Schlüpfer …«
»Lass meinen Schlüpfer in Frieden«, unterbrach sie ihn.
Léon erklärte Louise, dass bei Halbmond Erde, Mond und Sonne genau im rechten Winkel zueinander stehen, was bedeute, dass der Mond auf der Umlaufbahn um die Sonne sozusagen hinter der Erde herfahre, und zwar in einer mittleren Entfernung von dreihundertvierundachtzigtausend Kilometern und mit einer Geschwindigkeit von hunderttausend Kilometern pro Stunde. »Das bedeutet, dass wir vor knapp vier Stunden dort waren und dass der Mond in vier Stunden hier sein wird.«
»Vier Stunden?«, sagte Louise. »Warte, lass mich nachrechnen.« Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute in den Himmel, während der Torpedo friedlich tuckernd durch die Nacht glitt. Nach einer Weile sagte sie: »Tatsächlich. Drei Stunden, zweiundfünfzig Minuten und ein paar Sekunden. Bei zu- oder abnehmendem Halbmond?«
Léon lachte überrascht auf, dann drückte er ratlos das Kinn auf die Brust. »Keine Ahnung. Kommt vielleicht drauf an, ob der Betrachter nördlich oder südlich des Äquators steht.«
»Quatsch. Zumindest in astronomischen Belangen sind alle Menschen Brüder.«
»Jedenfalls gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder fährt uns der Mond jetzt mit vier Stunden Abstand hinterher, oder er ist uns vier Stunden voraus.«
»Dann wäre er jetzt da, wo wir in vier Stunden sein werden.«
»Das will ich nicht wissen«, sagte Léon. »Lass uns annehmen, dass er uns hinterherfährt.«
»Die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig«, sagte Louise. »Wo wäre der Mond dann jetzt?«
»An der Stelle, an der ich dich vom Tisch hinüber aufs Bett getragen habe.«
»Und unterwegs haben wir bei der Garderobe haltgemacht.«
»Bei den Kleiderhaken.«
»Die waren nicht ordentlich befestigt.«
Eine Weile betrachteten sie still den Mond, der sich erstaunlich rasch vom Horizont löste.
»Eigentlich braucht man für die Reise zum Mond gar keine Rakete«, sagte Louise. »Man muss nur vier Stunden an Ort und Stelle bleiben.«
»Einfach hochspringen, in der Schwebe bleiben und die Erde vorausfahren lassen.«
»Und auf den Mond warten.«
»Und dann zusteigen.«
»Sag mir, Léon, wo ist der Mond jetzt?«
»Dort, wo die Nachttischlampe am Boden zersplittert ist. Da hast du angefangen, meinen Namen zu stammeln.«
»Du bist ein eingebildeter Geck.«
»Ich habe es noch im Ohr«, sagte Léon. »Und in der Nase habe ich es auch. Ich kann uns beide riechen. Riech mal.«
Sie schnüffelte an seinem Hals, an seiner Schulter und an ihrem eigenen Unterarm. »Wir riechen genau gleich.«
»Unsere Gerüche haben sich vermischt.«
»Ich wünschte, das würde so bleiben.«
»Für immer.«
Louise lachte. »Darunter machst du’s
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