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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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Erinnerungen hingab wie ein alter Mann. Äußerlich hatte er sich nicht sehr verändert in den zwölf Jahren, die seit dem Ausflug mit Louise vergangen waren; er war nicht dicker und nicht dünner geworden, und obwohl er nun eine Stirnglatze hatte, war sein Körper mit vierzig Jahren kaum anders als zehn oder zwanzig Jahre zuvor.
    Ein junger Mann aber, das fühlte er seit Kurzem, war er nun nicht mehr. Noch tat ihm nichts weh, noch neigte er nicht zur Schwermut und ließ sein Gedächtnis nicht nach, und noch wurde er unruhig beim Anblick schöner Frauenbeine. Trotzdem fühlte er, dass die Sonne ihren Höchststand überschritten hatte. Auch wollte er nicht mehr jung erscheinen und hatte nicht mehr das Bedürfnis, sich mit glänzenden Gamaschen und einer kecken Melone interessant zu machen; kürzlich hatte er erstmals einen klassischen Tweedanzug gekauft und bei der Anprobe verwundert und ein wenig amüsiert festgestellt, dass er darin dem Vater seiner Kindheit zum Verwechseln ähnlich sah.
    Seine Frau Yvonne beklagte sich nicht. Als er an jenem Sonntagmorgen auf der Place Saint-Michel Louise ein letztes Mal geküsst hatte und aus dem Torpedo gestiegen war, um sich an die Rue des Écoles zu schleppen wie ein zum Tode Verurteilter auf dem Weg zum Schafott, hatte sie getan, als sei er nicht die ganze Nacht weggeblieben, sondern kehre nur von der Bäckerei zurück oder habe rasch seine Hemden zum Bügeln hinunter zu Madame Rossetos gebracht. Die Wohnungstür war offen gestanden, und aus der Küche hatte es nach Kaffee geduftet, und als er nach ihrer Hand greifen und zu einer Erklärung ansetzen wollte, hatte sie sich ihm entzogen und gesagt: »Lass gut sein, wir wissen beide Bescheid. Wir wollen nicht unnötig Worte verlieren.«
    Zu Léons grenzenlosem Erstaunen verbrachten sie dann einen unaufgeregt angenehmen Sonntag wie die glücklichste aller Familien, spazierten im milchigen Novemberlicht durch den Jardin des Plantes und zeigten dem kleinen Michel die ausgestopften Mammuts und Säbelzahntiger im naturhistorischen Museum, aßen Zitroneneis in der Brasserie au Vieux Soldat und ließen ihr Söhnchen Motorrad fahren auf dem Karussell, das am Eingang des Jardin du Luxembourg stand, und die ganze Zeit hatte sich Yvonne bei ihm eingehängt und folgte mit ihrer trächtig weichen Hüfte katzenhaft anschmiegsam jeder seiner Bewegungen, als hätten sie beide seit jeher im Leben dieselben Ziele, dieselben Wünsche und dieselben Absichten gehabt.
    Anfangs war Léon irritiert über das Ausbleiben des unvermeidlichen Dramas. Er wunderte sich über Yvonnes Großmut einerseits und andererseits darüber, dass er seiner Untreue so rasch hatte untreu werden können; aber dann verstand er, dass Yvonne ihn besiegt hatte, indem sie sich seine Eskapade zu eigen, zu einer Episode ihrer Ehe gemacht hatte. Seine Wiederbegegnung mit Louise würde künftig nicht trennend zwischen ihnen stehen, sondern sie als gemeinsame Erinnerung verbinden. Allerdings wurde ihm auch bewusst, dass diese Großzügigkeit letztlich auf grausamer Unerbittlichkeit beruhte: auf der Gewissheit nämlich, dass Yvonne auf Gedeih und Verderb auf ihn angewiesen war und dass es einem moralischen Menschen wie Léon in Zeiten von Krise und Inflation in einem katholischen Land wie Frankreich unmöglich sein würde, seinen erstgeborenen Sohn und seine ihm von Gott anvertraute, im fünften Monat schwangere Gattin zu verlassen aus dem einzigen Grund, dass er an der Seite einer anderen Frau sein Glück suchen wollte.
    Tatsächlich war es für Léon so selbstverständlich, dass er bei Yvonne bleiben würde, dass es noch nicht mal eine Pflicht war; darüber brauchte er gar nicht nachzudenken. Sie würden zusammenbleiben und sich niemals scheiden lassen, weil es erstens ihnen beiden für die finale Katastrophe zwar nicht an Leidenschaftlichkeit, aber an jenem erforderlichen Quantum Skrupellosigkeit und Selbstbezogenheit fehlte, das den Ehedramen bei aller Hochherzigkeit der Gefühle doch immer auch eigen ist; zweitens war ihre Ehe bei aller Fremdheit und Distanz getragen von einem geschwisterlichen Gefühl von Zuneigung, Wohlwollen und Respekt, das sie aneinander nie verraten hatten; so kam es, dass sie drittens das wichtigste Band, das die meisten Paare am stärksten zusammenhält – die Furcht vor Hunger und Not in der Einsamkeit einer ungeheizten Dachkammer –, noch nie richtig wahrgenommen hatten.
    Es war schon dunkel, als sie von ihrem Sonntagsausflug heimkehrten. Sie aßen in

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